Wie verteidigen wir die Demokratie? : Gesetze statt Demos
Die Bundesrepublik ist keine „wehrhafte Demokratie“ gegen ihre Feinde. Das Zurückdrängen der autoritären Kräfte soll eine engagierte „Zivilgesellschaft“ erledigen. Das ist illusionär.
Von UDO KNAPP
taz FUTURZWEI, 18.10.2022 | Die Feinde demokratischer, rechtsstaatlicher und freiheitlicher Strukturen gewinnen in allen westlichen Demokratien an politischem Gewicht. Dort, wo sie schon politische Macht gewonnen haben, in Polen, Ungarn, Italien, in der Türkei, in den USA, benutzen sie die Freiheitsrechte dazu, diese Freiheitsrechte zu delegitimieren und einzuschränken. Dort wo sie noch keine Mehrheiten für die Umsetzung ihrer Ziele gewonnen haben, betreiben sie im Namen der Demokratie offen systemfeindliche Kampagnen.
Ihre Abgrenzung zu rechtsradikalen und neofaschistischen Organisationen ist fließend. Sie zeigen sich offen für Gewalt in der politischen Auseinandersetzung. Sie nutzen die Technologien der Informationsgesellschaft für die Verbreitung von Fake News, die Denunziation und Verfolgung ihnen unliebsamer Personen, Politiker und Parteien. Sie pflegen, mehr oder weniger offen, Judenhass, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Sie verbünden sich mit Impfgegnern und Verschwörungstheoretikern, die behaupten, die demokratischen Parteien benutzten Corona, um die Freiheit aller Bürger abzuschaffen. Im Ukrainekrieg stellen sie sich offen an die Seite der imperialistischen russischen Kriegspolitik. Sie instrumentalisieren die aus der Klimakrise folgenden Belastungen und Ängste für ihre Systemkritik. Sie lassen sich ihre Parteiarbeit illegal aus der Wirtschaft und von einigen Großverdienern finanzieren. Die Presse und das Fernsehen verschaffen ihnen mittels ihrer auf Skandal gebürsteten Berichterstattung einen privilegierten Zugang zur breiten Öffentlichkeit, der ihre demokratiefeindlichen Positionen mit einer quasi offiziellen Anerkennung versieht.
Gesellschaft und Politik reagieren auf diese Bedrohung ihrer demokratischen Substanz pflichtschuldig empört. Ansonsten sehen der Staat und die Parteien zu, wie sich demokratiefeindliche Strukturen in der Gesellschaft festsetzen. Sie verweisen darauf, dass diejenigen, die es mit der Demokratie ernst meinen, auch zulassen müssen, dass deren Existenz in Frage gestellt wird, sonst seien sie selbst keine Demokraten. Wenn die Feinde der Demokratie mit demokratischen Mitteln die Demokratie abschaffen, ist das aus dieser Sicht betrachtet nicht mehr als ein Kollateralschaden der demokratischen Prozeduren, den die dann demokratische Minderheit hinnehmen muss.
Ein klassisches Reaktionsmuster auf den Aufwuchs rechter Populisten ist der Verweis auf die Zivilgesellschaft. Sie soll in inhaltlichen Auseinandersetzungen den „Verächtern der Demokratie mit Herz, Verstand und Emotionen entgegentreten und so die Appelle der Verächter an die niederen Instinkte der Massen ins Leere laufen lassen“, wie etwa Heribert Prantl in der SZ schreibt. „Demokratischen Populismus“ nennt er das. Dies sei „das in dieser Frage eben notwendige Trommeln auf den harten Brettern der Politik“. Prantl glaubt daran, dass mit verständnisvollem Ringen mit Argumenten aus der Zivilgesellschaft die Verächter von ihrem destruktiven Denken und Handeln abgebracht werden können. Diese Erwartung findet sich auch bei Sozialdemokraten und Grünen, etwa in ihrem Entwurf zu einem Demokratieförderungs-Gesetz. Aus Steuermitteln sollen dauerhaft zivilgesellschaftliche Bemühungen finanziert werden, AfD und Rechtsradikalen mit Aufklärung entgegenzutreten. Das Zurückdrängen der rechten Verächter der Demokratie soll die Zivilgesellschaft erledigen. Das ist illusionär.
Freiheitsrechte mit allen Mitteln verteidigen
Eine „wehrhafte Demokratie“ in der Bundesrepublik gibt es nicht. Der Staat und die politischen Parteien zeigen sich unwillig, sich gegen ihre Verächter entschlossen aufzustellen, die Freiheitsrechte, wenn erforderlich, auch mit Einsatz der Instrumente des staatlichen Gewaltmonopols zu verteidigen.
Am Beginn der Geschichte der Bundesrepublik war das anders. Die Parteienverbote der SRP, einer Nachfolgeorganisation der NSDAP 1952, und der KPD 1956, ein in vieler Hinsicht tatsächlich autoritärer Staat, eine parteiliche Justiz und eine unnachsichtig aufgestellte Polizei haben die Abkehr vom Faschismus und anderen autoritären Verführungen flankiert – überzogen und oft die demokratischen Verfahrensregeln restriktiv auslegend, aber mit Erfolg. Die autoritäre Nachkriegsdemokratie war das Mittel der Zeit, um eine Wiederkehr faschistischen Denkens auf die politische Bühne zu verhindern, aber auch revolutionäre, kommunistische Machtansprüche einzuhegen.
Erst die 68er haben, eingebettet in der antiautoritären, nach individueller Selbstbestimmung und Freiheit ausgreifenden Studentenbewegung eine tief wirkende Liberalisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen ausgelöst. Die harte Vorherrschaft einer durchgehenden repressiven Vorstellung von Recht und Ordnung wurde nachhaltig gebrochen. Die Bundesrepublik hat sich in diesen Auseinandersetzungen selbst demokratisiert. Nicht zu vernachlässigen ist, dass in diesem Prozess auch für eine sozialistische Alternative zum Kapitalismus in der Öffentlichkeit breiter Wirkungsraum eröffnet worden ist. Die Studentenbewegung hat sich an ihrem Ende aufgelöst in sich als Systemalternative sehende, neokommunistische Sekten. Sie hat mit ihrem Bild von autoritärer, kapitalistischer Herrschaft in der Bundesrepublik auch terroristischen Ansätzen Raum verschafft.
Es hat Jahre gebraucht, bis die damals systemkritische Opposition der Jungen zu den demokratischen Mitteln verändernder Politik gefunden hat. Doch als ihre Konterbande hat sie jedes staatliche Eingreifen zum demokratischen Selbstschutz gegenüber grundsätzlicher Systemkritik delegitimiert. In dem so entstandenen politischen Freiraum bewegen sich heute die politischen Feinde der Demokratie. Sie beschwören die Demokratie, kämpfen aber für ihr Gegenteil. Wenn die liberale Demokratie als Ganzes gegen autoritäre Versuchungen und Systemverächter von rechts geschützt werden soll, dann muss der demokratische Staat für alle gleichermaßen die Freiheitsrechte neu so ausgestalten, dass ihre Abschaffung ausgeschlossen werden kann. Eine so ausgestaltete, selbstbewusste Demokratie wäre kein linksliberaler Autoritarismus, wie etwa Sahra Wagenknecht behauptet, sondern notwendiger Selbstschutz. Im Übrigen bieten das Grundgesetz und die geltenden Gesetze auch heute schon viele Instrumente, um den Demokratieverächtern nicht den Argumentationsraum, wohl aber den politischen Wirkungsraum zu entziehen.
Alle politischen Parteien werden sich entscheiden müssen, ob sie der Demontage der demokratischen Substanz der Bundesrepublik weiter zusehen wollen oder ob sie, alle gemeinsam, auch in der Innenpolitik eine „Zeitenwende“ hin zu einer unter Umständen auch militanten Verteidigung der Demokratie einleiten.
UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.