Wie schwer es sein kann, die eigene Tochter von der EU zu überzeugen: Zusammen erfolgreich egoistisch
Wir retten die Welt Hannes Koch
Als ich über die Oderbrücke bei Frankfurt zu meinen Freunden nach Warschau fahre, rollt auf dem Nachbargleis ein Zug mit deutschen Panzern in die gleiche Richtung. Ein befremdlicher Anblick. Manöver gegen die Russen. Viele Polen finden das gut.
Ich nehme an einer Demonstration gegen die polnische Regierung teil. 50.000 Leute protestieren, weil Jarosław Kaczyński, der Chef der Regierungspartei, die demokratischen Rechte schleift. Der Protest findet unter einem Himmel von weiß-roten und blauen Fahnen statt. Hier ist die europäische Flagge ein positives Symbol des Rechts und der Freiheit. Überwiegend sieht man mittelalte Leute, junge Proeuropäer eher selten.
In den alten EU-Ländern ist es angeblich entgegengesetzt. Über den Brexit würden sich vor allem Teens und Twens aufregen, heißt es, weil sie ihre Freizügigkeit und das Auslandsstudium bedroht sähen. Bei den jungen Engländern mag die ganz neue, schockierende Erkenntnis mitspielen, dass das jahrhundertealte Grufti-Ritual der demokratischen Wahl indeed etwas ändert und Wahlabstinenz schädlich ist.
Für unsere Familie trifft die Jung-Alt-Analyse nur halb zu. Mein sechzehnjähriger Sohn findet den Austritt Großbritanniens aus der EU tatsächlich Mist. Meine neunzehnjährige Tochter dagegen schaut mich erst mal irritiert an, als ich am Abend nach der britischen Abstimmung über den Zerfall Europas klage. Dann liefert sie diese Erklärung: Sie betrachte Europa in erster Linie als Vereinigung zur Ausbeutung anderer Länder. Nach dem Motto: Textilfabrik nach Bangladesch verlagert, Umweltverschmutzung auch. So ein Europa brauche sie nicht.
Ich krame im sedimentierten Fundus der Wirtschaftsstatistik und erinnere mich an diese Zahlen: Importquote Deutschlands 30 Prozent, Exportquote 40 Prozent. Weniger als die Hälfte der deutschen Wirtschaft findet also im Austausch mit dem Ausland statt. Den größten Batzen erwirtschaften wir hier selbst. Unsere Steuerberater, Zahnarzthelferinnen und Busfahrer tun Sinnvolles und Sinnloses, aber sie beuten am Arbeitsplatz nicht die Dritte Welt aus.
Deutsche, französische und britische Firmen würden sich zudem nicht menschenfreundlicher verhalten, wenn die EU in ein Sammelsurium von Nationalstaaten zerfiele. Und der chinesische Investor baut die Straße in Afrika auch nicht, um Gutes zu tun, sondern weil er die Lizenz zum Rohstoffabbau ergattern will.
Bei dieser Debatte merke ich wieder, wie schwer es ist, ein allseits überzeugendes Argument für Europa zu finden. Bisher hielt ich dies für durchschlagend: Ein Haufen im Weltmaßstab kleiner Länder sollte sich zusammentun, um mit einer Stimme zu sprechen. Vereinigt kann man erfolgreicher egoistisch sein als alleine.
Bei meiner Tochter kann ich so nicht landen. Sie will eine EU, die keinem schadet. Ein liebes Europa, das nur Gutes tut. Dazu ich: „Völlig unrealistisch.“ Darauf sie: „Das hast du am Abend vor dem Brexit auch gesagt.“
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