: Wie könnten die Menschen in Bosnien geschützt werden? Eine bittere Pille für Pazifisten -betr.: Lebenserfahrungen eines Pazifisten, taz vom 4.8.1995
Betr.: Lebenserfahrungen eines Pazifisten, taz 4.8.95
Lieber Rudolf Prahm!
In Ihrem Text „Lebenserfahrungen eines Pazifisten“ schildern Sie eindrucksvoll, wie Sie nach Ihrem Einsatz als Infanterist im 2. Weltkrieg Ihr Leben verändert haben, allen halfen, die sich dem Kriegsdienst entziehen wollten, und es Ihnen wichtig ist, dem Entstehen von Kriegen in den Köpfen frühzeitig entgegenzuwirken, indem Sie dagegen ankämpfen, daß die Ideen von Religion und Vaterland eine beherrschende Macht entfalten. Ein in den zitierten politischen Situationen höchst anerkennenswertes Engagement. Kein Zweifel.
Aber – und das fehlt mir in Ihrem Brief – warum quält sie so wenig die Frage, wie die Menschen in Bosnien geschützt werden können, wie sie sich selber helfen können, welche Möglichkeiten für sie bestehen? Warum berührt Sie diese Frage nicht? Warum taucht sie in ihrem Brief überhaupt nicht auf? Wie können Sie so fest an Ihrem Grundsatz festhalten, junge Männer zum Desertieren und zur Fahnenflucht zu bewegen, wenn diese Strategie so offensichtlich weder kurz- noch mittelfristig eine Lösung für die 2 Millionen muslimischen Bosnier bringt?
Meiner Erinnerung nach war es ein wesentlicher Eskalationsschritt im serbischen Eroberungskrieg zur Zerstörung des multikulturellen Bosniens, daß eine bunte Anti-Kriegs-Demo in Sarajewo mit scharfen Schüssen auseinandergetrieben wurde. Und dieses Bild ist aussage- kräftig: Demos helfen leider ebensowenig wie Fluchten und die anderen pazifistischen Rezepte. Die Brutalität des Angreifers und die Passivität der Welt (die sich auf bloße humanitäre Hilfe beschränkt), diese Konstellation läßt den Bosniern keine gewalt- freien Problemlösungen.
Die Nicht-Übertragbarkeit Ihrer Grundsätze auf die Lage in Bosnien ist schwer einzugestehen. Aber es sollte ausgesprochen werden, daß wir dort vor einer grundsätzlich anderen Situation stehen.
Und diese Erkenntnis hat Folgen:
Wenn die friedliche Aktionen nicht helfen (der Krieg hat unter den bosnischen Serben eine hohe Akzeptanz – wohl wegen seiner Erfolge – und es können nicht alle Bosnier, Albaner, Makedonier usw. fliehen, die in serbisch beanspruchten Gebieten leben), UNO und NATO den zugesagten Schutz verweigern und Selbstverteidigung bisher an der überlegenen Bewaffnung der angreifenden Serben scheitert, dann muß – m.E. ist das zwingend – dafür gesorgt werden, daß man mit Hilfe des archaischen Prinzips des Gleichgewichts der Kräfte für einen Waffenstillstand sorgt. Das heißt nicht, daß deutsche oder andere fremde Soldaten die Serben bremsen. Die Bosnier selbst (und in Zukunft auch andere von Serbien bedrohte Völker) sollten mit möglichst defensiven Waffen soweit aufgerüstet werden, daß das alte und von Pazifisten zu Unrecht so geschmähte System der Abschreckung eine Waffenruhe herstellt.
Natürlich haben wir uns das anders gewünscht. Natürlich birgt dieses Vorgehen Risiken. Vergleichbar etwa mit einem Waldbrand, der mit einem Gegenfeuer bekämpft werden muß.
Eine bittere Pille für Pazifisten. Gewiß. Aber unumgänglich für alle, die nicht ihre Augen und Herzen verschließen vor dem, was in Bosnien in diesem Moment wieder und wieder geschieht. R. Pagel
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