■ Wenn Kirchen Flüchtlingen Schutz bieten: 2.000 Menschen haben seit 1983 in kirchlichen Räumen vorübergehendes Asyl vor drohender Abschiebung gefunden. Hierbesteht ein bisher kaum genutztes Potential christlich-humanitär motivierten...
Dem asylsuchenden Roma aus Rumänien, Josef Colompar, droht in wenigen Tagen die Abschiebung. Für den ehemaligen Sekretär des Präsidenten einer Romavereinigung in Arad bestünde bei einer Rückkehr akute Gefahr für Leib und Leben. Vor seiner Flucht war er schweren Schikanen und mehrfacher Inhaftierung ausgesetzt. Trotzdem wurde sein Asylantrag rechtskräftig abgelehnt. Seine Angst ist groß. Für den Fall einer Abschiebung hat er Suizid angekündigt. Er taucht unter.
Nach einem mißglückten Abschiebeversuch entscheidet der Vorstand der Kirchengemeinde Detmold-Hiddesen, Colompar in ein Kirchenasyl aufzunehmen. Er wird im Gemeindehaus untergebracht und 47 Tage lang rund um die Uhr betreut. Gleichzeitig werden die bis dahin ergebnislosen Verhandlungen mit der Stadt Detmold wieder aufgenommen und eine breite Öffentlichkeit mobilisiert. Nähere Untersuchungen ergeben, daß beim Umgang mit dem Asylantrag Colompars erhebliche Verfahrensmängel unterliefen. Die politische Rolle des Mannes ist völlig übersehen worden – trotz gegenteiliger Belege. Die Stadt gerät in Begründungsnotstand, sieht sich dem Vorwurf des Abschiebeleichtsinns konfrontiert. So lenken die Stadtoberen schließlich ein: Nicht „unbeachtliche“, sondern „beachtliche“ Gründe seien es nun, die zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens führen können. Das Bundesamt in Zirndorf prüft den Fall und plädiert für eine Duldung. Inzwischen kann sich Colompar wieder frei bewegen.
Die Gemeinde in Detmold hat sich ihre Entscheidung, den staatlich Verantwortlichen in den Arm zu fallen, nicht leicht gemacht. Im Vorfeld war alles getan worden, um auf dem Verhandlungsweg zum Ziel zu kommen. Man hat Informationen über die Lage der Roma in Rumänien und über die spezielle Gefährdung Colompars eingeholt, einen Anwalt eingeschaltet, bei politisch Verantwortlichen interveniert und immer wieder das Gespräch mit der Stadt gesucht – ohne Ergebnis. Schließlich wurde ihr klar, daß sie Gott mehr zu gehorchen hat als den Menschen.
Die Detmolder Geschichte ist kein Einzelfall. Hunderte solcher Vorgänge haben sich seit den ersten Kirchenasylinitiativen in der Bundesrepublik 1983 zugetragen. Fast 2.000 Menschen haben dabei in kirchlichen Räumen vorübergehend Schutz gefunden. Etwa 200 Gemeinden sind zur Zeit grundsätzlich bereit, Kirchenasyl zu gewähren.
Gott mehr gehorchen als den Menschen
Theologisch und rechtlich ist diese Form zivilen Ungehorsams umstritten. Im chistlich-theologischen Diskurs argumentieren die einen mit dem Pauluswort aus Römer 13,1: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit...“ Tatsächlich gibt es für den Christen wie für jeden Staatsbürger eine Pflicht zur Rechtsbefolgung. Nach der theologischen Auffassung der Reformatoren hat Gott jedem Staat den Auftrag gegeben, Recht zu schützen, Frieden zu wahren, dem Bösen zu wehren, das Gute zu fördern. Solange staatliches Handeln diesem Auftrag entspricht, gebührt ihm Unterstützung von seiten der Christen und Kirchen. Sie wissen um die menschliche Fehlbarkeit, die Neigung zu Egoismus und Bosheit. Darum bedarf es des Staates, damit ein Mindestmaß an Ordnung gewahrt wird. In diesem Sinne sind die Menschen dem Staat Gehorsam schuldig.
Das bedeutet aber keineswegs, daß der Staat jeder Kritik durch die Bürger entzogen ist. Denn die Regierungen sind auch Menschen und genauso fehlbar wie die Regierten. Darum ist theologisch die Fehlbarkeit der Regierenden ein genauso wichtiges Thema: der mögliche Mißbrauch von Macht und Herrschaft, etwa die Unterdrückung und Ausbeutung der Regierten. Genau damit rechnet auch die Demokratie und sieht darum Institutionen und Regelungen vor, die die Macht der Regierenden begrenzen und ihre Machtausübung kontrollieren. Hier wird von den gleichen anthropologischen Voraussetzungen ausgegangen.
Weil nun aber die Regierenden fehlbar sind, kann das ethisch Gebotene auch darin bestehen, ihnen nicht Folge zu leisten. So wie es theologisch-ethisch eine Pflicht zur Rechtsbefolgung gibt, gibt es auch eine Pflicht zum Ungehorsam. Biblischer Hintergrund für diese Pflicht ist das Wort des Petrus aus der Apostelgeschichte 5, 29: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Das Wort will sagen, daß es eine Grenze für den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit gibt. Die Obrigkeit hat keine letzte, absolute Autorität über Menschen. Letzten, unbedingten Gehorsam schuldet der Christ nur Gott.
In der deutschen protestantischen Tradition ist theologisch über die Legitimität von zivilem Ungehorsam wenig nachgedacht worden. Die enge Verbindung von Thron und Altar in der Geschichte ließ solche Reflektionen nicht aufkommen. Zentrales Problem dieser Geschichten waren nicht protestantischer Protest, sondern protestantischer Obrigkeitsgehorsam. Diese Denkungsart wirkt bis heute in Kirchengemeinden nach. Wer sie dazu aufruft, bedrohten Menschen Kirchenasyl zu gewähren, muß mit entsprechenden Widerständen rechnen.
Natürlich ist ziviler Ungehorsam im säkularen Bereich genauso umstritten, vor allem dort, wo Strafrechtsverstöße vorliegen. Es heißt, wenn er mit Appellen zur Nachahmung einhergehe, könne die Rechtsordnung im ganzen gefährdet sein. Es werden die Gefahren eines Chaos an die Wand gemalt. Die bisherigen Erfahrungen – etwa mit Sitzblockaden der Friedensbewegung, „Kriegssteuerverweigerung“ und ähnlichem – bestätigen solche Befürchtungen nicht. Solche Maßnahmen haben eher Nachdenklichkeit gefördert, ethische Diskurse angeregt und zur Schärfung des Gewissens beigetragen.
Ein grundsätzliches Argument für die Rechtfertigung zivilen Ungehorsams ist die Tatsache, daß kein Staat, keine Behörde und keine Gerichtsbarkeit davor gefeit sind, schwerwiegende Irrtümer zu begehen oder die Grenzen, die ihrer Macht gesetzt sind, zu überschreiten. Für unseren Gegenstand heißt dies, daß es zum Beispiel auch bei rechtlich einwandfreien Asylverfahren zu gravierenden Fehleinschätzungen der damit befaßten staatlichen Organe kommen kann, daß also zum Beispiel Gefahren übersehen oder bagatellisiert werden, die einem Flüchtling im Fall einer Abschiebung drohen. Solche Fehler können nur vermieden bzw. korrigiert werden, wenn es wache, verantwortungsvolle Bürger gibt, die in kritischer Solidarität das Tun der Verantwortlichen verfolgen und sich zu Wort melden, wenn Fehler unterlaufen. Dies kann notfalls so weit gehen, daß formales Recht übertreten wird.
Darin liegt natürlich immer ein Risiko – denn auch die Kritiker der staatlichen Autoritäten können irren. Aber es bedarf dieser mutigen Bürger schon allein darum, möglicher Fahrlässigkeit im Umgang mit Flüchtlingsschicksalen entgegenzuwirken. Letztlich lebt die rechtstaatliche Demokratie vom Mißtrauen der Bürger gegen die fehlbare Vernunft und die korrumpierbare Natur des Menschen (J.Habermas).
Nach dem Gesagten ist allerdings deutlich, daß die Entscheidung für zivilen Ungehorsam nicht leichtfertig gefällt werden darf. Sie muß vielmehr an einer Reihe von Kriterien überprüft werden. Dazu gehört, daß ein Verstoß gegen einen anerkannten Rechtsmaßstab (zum Beispiel Grund- und Menschenrechte) vorliegt, daß alle anderen Möglichkeiten, die gewünschte Änderung der betreffenden Gesetze, Politik oder staatlichen Maßnahmen herbeizuführen, erschöpft sind, daß die Handlung öffentlich, gewaltfrei und auch unter taktischen Gesichtspunkten sinnvoll und erfolgversprechend ist.
Gemeinden, die Kirchenasyl gewähren, achten die Menschlichkeit höher als die Durchsetzung des formalen Rechts. Die Legitimität solchen Handelns ist nicht juristisch zu fassen. Als Akt bürgerlichen Ungehorsams verweist dieses Handeln gerade auf die Grenzen des formalen Rechts. Dies kann nicht als Widerstand gegen den demokratischen Staat bewertet werden. Im Gegenteil: Es soll darauf hingearbeitet werden, daß staatliches Recht und staatliche Praxis menschengerechter werden.
Kirchenasylinitiativen in der Bundesrepublik
Es gibt in der Bundesrepublik keine Kirchenasylbewegung, die mit der Sanctuary-Bewegung in den USA vergleichbar wäre. Zwar gab und gibt es eine beträchtliche Anzahl von Kirchenasylfällen mit zum Teil spektakulärem Charakter. Aber es fehlt bislang eine übergreifende Organisationsstruktur, eine Vernetzung auf Bundesebene, die über lose Kontakte hinausginge. Dabei liegen die ersten Fälle schon zehn Jahre zurück. 1983 hat die Heilig-Kreuz-Gemeinde in Berlin einer Gruppe von Palästinensern, die von Abschiebung bedroht waren, Kirchenasyl gewährt. Daß gerade diese Gemeinde den Anfang machte, nimmt nicht wunder, wenn man weiß, daß in ihrem Gemeindehaus im Frühjahr 1983 ein Hungerstreik gegen die drohende Auslieferung Cemal Altuns stattfand. Das Schicksal dieses jungen Türken, der sich angesichts der bevorstehenden Abschiebung aus dem Fenster des Gerichtsgebäudes zu Tode stürzte, war für die Gemeinde zu einem Schlüsselerlebnis geworden.
Ebenfalls 1983 wurde in der Bergarbeitergemeinde in Gelsenkirchen-Hassel durch Kirchenasyl eine Abschiebung verhindert. Dort sollte eine türkische Familie außer Landes geschafft werden, obwohl sie schon lange in der Bundesrepublik lebte. Es war jedoch der Ernährer der Familie gestorben; Frau und Kinder besaßen aufgrund des restriktiven Ausländergesetzes kein eigenständiges Aufenthaltsrecht.
Der sicherlich spektakulärste Kirchenasylfall in dieser Frühphase ereignete sich 1984 in Hamburg. Es war zugleich der größte Fehlschlag für Initiativen dieser Art. Die Gemeinde der St.Stephanuskirche in Eimsbüttel hatte die von Abschiebung bedrohte philippinische Seemansfrau Susan Alviola mit ihren beiden Kindern in der Kirche aufgenommen. Um den Verbleib der Familie hatte es schon zwei Jahre lang heftige Auseinandersetzungen zwischen Unterstützern und Senat gegeben. Am 15.11.1984 wurde die Familie durch ein Aufgebot von 60 Polizisten gewaltsam aus der Kirche geholt. Susan Alviola wehrte sich heftig, schrie und weinte, während sie herausgetragen wurde. Noch am gleichen Abend erfolgte die Abschiebung mit einem Flugzeug nach Manila.
Seit diesen Anfängen hat es Hunderte von Kirchenasylfällen in mindestens 50 Städten der Bundesrepublik gegeben – die meisten davon in Berlin und Hamburg. Nach einer Umfrage des Autors wird der Erfolg dieser Initiativen von den Akteuren überraschend positiv eingeschätzt. In der Mehrzahl der Fälle konnten Abschiebungen verhindert werden. Schlüssel zum Erfolg war immer der öffentliche Druck, der angesichts drohender Gefahren für Leib und Leben der Flüchtlinge durch solche Aktionen erzeugt wurde. Das kirchliche Hausrecht wurde in aller Regel respektiert. Nur in drei Fällen sind Flüchtlinge gewaltsam aus kirchlichen Räumen herausgeholt worden.
Es hat fast immer positive Lernprozesse in Gemeinde und Öffentlichkeit gegeben. In der Begegnung mit diesen Menschen werden Gemeinden mit deren Angst und Verzweiflung konfrontiert, fühlen sich als Menschen und Christen herausgefordert, etwas für sie zu tun, Zuflucht zu gewähren. Der eigentliche Sinn des Asylrechts wird auf einmal in seiner ganzen existentiellen Dimension und menschlichen Tragweite begriffen. Es geht nicht – wie so oft in Politik und Medien – um die Gefahren, die uns durch Flüchtlinge drohen, sondern die Gefahren, denen Flüchtlinge sich ausgesetzt sehen und an denen wir als Aufnahmeland nicht unbeteiligt sind. Es geht nicht um Flüchtlinge als große Zahl, als anonyme „Asylantenfluten“, sondern um einzelne Menschen mit Namen und Gesicht, mit Ängsten und Hoffnungen. Es geht um Familien mit Kindern, die lachen und lärmen, mit Verwandten und Freunden, die zu Besuch kommen, mit eigenen Vorlieben, Eß- und Lebensgewohnheiten.
Manchmal haben Kirchenasylinitiativen auch politische Wirkungen gezeitigt, die über den konkreten Fall hinausweisen. In Berlin beispielsweise ist mit diesen Aktionen in den achtziger Jahren einer breiten Öffentlichkeit die prekäre Situation im Libanon und die Unvertretbarkeit von Abschiebungen in dieses Land bewußt gemacht worden. Darauf hat der Senat mehrfach mit Abschiebestopp-Regelungen für Flüchtlinge aus dem Libanon reagiert. Auch die liberale Altfallregelung Berlins vom 1.10.1987 wird zumindest teilweise als Erfolg der Kirchenasylinitiativen bewertet.
Perspektiven
Trotzdem könnten die politischen Wirkungen wesentlich größer sein, wenn die Kirchenasylbewegung einen Organisationsgrad erreichte wie vergleichbar Bewegungen in den USA, den Niederlanden und der Schweiz. Angesichts der Tatsache, daß Kirchenasyle immer wieder breite öffentliche Unterstützung finden und mindestens 200 Gemeinden in allen Teilen der Bundesrepublik prinzipiell bereit sind, in dieser Weise Zeichen zu setzen, schlummert hier ein bisher kaum genutztes Potential christlich-humanitär motivierten Widerstands gegen die Aushöhlung des Asylrechts. Gerade heute, wo sich nach den Bonner Asylentscheidungen die Situation für Flüchtlinge dramatisch zugespitzt hat und Abschiebungen in großem Umfang geplant werden, ist eine Bündelung aller Kräfte nötig, die das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit von Flüchtlingen schützen wollen. Erste Ansätze hierzu sind vorhanden. In Berlin gibt es den ökumenischen Arbeitskreis „Asyl in der Kirche“, über den die Kirchenasylgemeinden vernetzt sind und kooperieren. In Köln wird am 18. September 1993 ein Basistreffen der Kirchenasylinitiativen in Nordrhein-Westfalen stattfinden. Im Februar 1994 ist an der Evangelischen Akademie Mülheim/Ruhr ein bundesweites Treffen der Kirchenasylinitiativen geplant. Wolf-Dieter Just
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