Wenn EIN HAMBURGER GYMNASIUM SEINEN SCHÜLERN NUN ZÜCHTIGE BEKLEIDUNG VORSCHREIBT, IST das nichts Sensationsträchtiges: Druck rausnehmen in Eppendorf
Fremd und befremdlich
KATRIN SEDDIG
Kurze Hose zieh ich nicht an“, sagt die Tochter meines Freundes mit angewidertem Gesicht. „Da klebt man mit den Schenkeln auf dem Stuhl an.“ Ich kann mich noch dunkel erinnern. Ich trage keine kurzen Hosen mehr, jedenfalls keine, die unter den Pobacken enden. Es gibt allerdings noch kürzere Hosen, die auf den Pobacken enden. Es gibt Hotpants, die sind fast gar nicht mehr da. Deshalb sind sie ja auch so hot.
„So gehst du nicht in die Schule!“: Diesen Satz hat vielleicht jeder schon mal gehört. Das kann sich auf den Minirock beziehen, auf die Schminke im Gesicht, auf die zerrissenen Jeans. Schon in meiner Jugend ging man falsch angezogen zur Schule – falsch angezogen in den Augen seiner Eltern. Richtig angezogen hingegen nach der eigenen Meinung, den eigenen Absichten dienend.
Kleidung dient ja nicht nur dem Zweck, den Körper zu wärmen, sonst würden wir bei 32 Grad alle nackt herumlaufen. Sie dient auch dem Zweck, den nackten Körper zu bedecken. Wenn es also jetzt Kleidungsvorschriften gibt, aktuell an der Sophie-Barat-Schule, einem katholischen Gymnasium in Hamburg-Eppendorf, dann sollten wir nicht so tun, als hätte es nicht schon vorher stillschweigende Vereinbarungen gegeben. Vereinbarungen, die mit Konventionen zu tun haben. Eine lautet: Gehe nicht nackt zur Arbeit, zur Schule, zum Einkaufen! Wir muten unsere Geschlechtsorgane nicht irgendwelchen Fremden zu und gelten als gestört, als exhibitionistisch, wenn wir es doch tun.
Es gibt aber eine Szene, in der die Menschen schon nackt sind: die FKK-Szene. Diese Menschen sind nicht gestört, aus der öffentlichen Gesellschaft aber dennoch ausgeschlossen. Nackt dürfen sie nur sein, wo es erlaubt und akzeptiert ist, am FKK-Badestrand, auf dem Nacktwanderweg, in der Sauna, zu Hause. Wo aber die anderen Menschen angezogen sind, müssen sie es auch sein. So kompliziert ist das.
Was erlaubt ist, was als anzüglich gilt, unanständig, das wird für verschiedene Gesellschaften, auch für verschiedene Kreise innerhalb der Gesellschaften, einzeln ausgehandelt. Einer Sportlerin sehen wir die Shorts nach, einem Standesbeamten nicht. Wir wären empört, wenn uns, die wir uns für diesen Tag besonders schön gemacht haben, einer in Shorts und T-Shirt traut. Wir wären befremdet, wenn eine Frau im glitzernden Minikleid einen Mörder vor Gericht verteidigt.
Nicht ohne Grund gibt es für bestimmte Berufsgruppen besonders strenge Kleidungsvorschriften, für den Anwalt vor Gericht zum Beispiel die Robe; sie soll nicht ablenken, ihm weder Vorteil noch Nachteil verschaffen. Wenn Nonnen in ihrem Kreis das lange Gewand verabredet haben, selbst im heißen Sommer, dann störe ich mich nicht daran. Auch wenn muslimische Frauen nur das sehr Angezogene angemessen finden, respektiere ich das. Hierzulande durften Frauen, vor rund hundert Jahren noch, Sport nur im langen Kleid ausüben – und dabei um Himmels Willen nicht die Beine spreizen!
Gesellschaftliche Regeln werden ständig neu verhandelt. Wenn eine Schule eine Kleiderordnung festlegt, in Absprache mit Lehrern, Eltern und Schülern, dann ist das nichts Sensationsträchtiges. In der Schule soll vor allen Dingen gelernt werden. Die neuen Brüste herzeigen, die antrainierten Muskeln, das kann ein Teenager auch danach, so wie Pobacken und Schenkel im Freibad oder auch Einkaufszentrum. Teenager werden nicht erst durch irgendwelche Kleiderordnungen von außen sexualisiert, sie sind bereits sexuelle Wesen, und in der Pubertät kann das ein bisschen außer Kontrolle geraten. Wenn wir also etwas von dem Druck rausnehmen, wenn wir sie „zur Ordnung rufen“, dann ist das nicht nur legitim, dann ist das sogar unsere Aufgabe als Erwachsene, als Erziehende.
Wir müssen die Jugend zügeln, sonst hat die ja gar keine Chance aufzubegehren.
Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr neuer Roman „Das Dorf“ erscheint im August bei Rowohlt Berlin.
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