Wenn Bettina Tietjen im Seniorenheim auftritt, dann ist die Bude voll. Das liegt auch an ihrem neuen Thema – Demenz: Die ideale Tochter
AM RAND
Klaus Irler
Gleich neben der Endhaltestelle der U2 gibt es in Niendorf-Nord ein Pflegeheim für alte Menschen, die Geld haben. Ein weitläufiger Gebäudekomplex mit Schwimmbad, Café, Theatersaal und einem Eingangsbereich, der auch zu einem Vier-Sterne-Hotel gehören könnte. Die Einrichtung heißt „Kursana-Seniorenresidenz“ und auf dem firmeneigenen Magazin ist ein lachender Uwe Seeler abgebildet. Darunter steht: „Auch im Alter am Ball bleiben.“
Im NDR-Fernsehen gibt es eine Vorabend-Talkshow, in der die Moderatorin Bettina Tietjen auf einem roten Sofa sitzt und harmlosen Studiogästen harmlose Fragen stellt. Nun hat Tietjen, 56, ein Buch geschrieben über die letzten Jahre mit ihrem dementen Vater: „Unter Tränen gelacht“ soll nicht nur traurig sein, sondern auch witzig. Vergangene Woche besuchte Tietjen die Kursana-Residenz, um daraus zu lesen.
Da kam also einiges zusammen: Eine Vorabend-Talkerin verhandelt in einem Luxus-Altenheim das Thema Demenz auf heitere Art. Die Veranstaltung kam mir so unheimlich vor, dass ich neugierig wurde. Also ging ich hin.
Der Theatersaal ist 15 Minuten vor Beginn bereits bis auf den letzten Platz gefüllt. „Da sind über 200 Leute drin“, sagt die Frau am Einlass, „es gibt nur noch Stehplätze.“ – „Macht nichts“, sagt eine Frau im Rollstuhl, „ich habe ja meinen Stuhl.“ – „Aber versperren Sie die Fluchtwege nicht.“
Auf einer kleinen Bühne mit rotem Vorhang sitzt dann Bettina Tietjen und erzählt von einem Pflegeheim, das sie so angenehm fand, dass sie sich gerne dort aufhielt. Sie erzählt, wie ihr Vater auf einmal anfing, im gebrochenen Deutsch seiner früheren Pflegerin zu sprechen, einer Lettin. Wie er eine Joggerin auf ihren dicken Hintern hinwies. Wie er immer offener, weicher und zugänglicher wurde. Und wie professionell die Pflegekräfte damit umgingen, wenn ein Bewohner der Demenz-WG einem anderen in den Schrank schiss.
Tietjen erzählt auch, wie schlimm sie manche Pflegeheime fand und wie schlecht mit ihrem Vater umgegangen wurde, wenn er ins Krankenhaus musste. Aber vom Komischen und Schönen erzählt Tietjen mehr. Das ist die Idee des Buches: „Demenz“, sagt Tietjen, „hat auch eine heitere, lebensbejahende, gefühlsbetonte Seite.“
Dem Publikum tut das gut. Es lacht gerne über die schrägen Geschichten. Und es lauscht gerne dieser Frau, die die ideale Tochter wäre: zupackend, positiv, präsent. Tietjen macht den Leuten Mut. Der Bedarf dafür ist groß: Die Anfragen für Lesungen reichten bereits bis ins nächste Jahr, sagt Tietjen.
Beim Rausgehen sagt eine Seniorin zu zwei anderen: „Es war sehr schön. So natürlich und locker. Sehr schön. Freuen wir uns auf unsere eigene Demenz!“
Zynisch, dachte ich erst. War es aber nicht. Es sollte heiter klingen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen