Weltrekord im Blindschach: "Wann hat das endlich ein Ende?"
Mit verbundenen Augen setzt Marc Lang seine sehenden Gegner reihenweise matt und erzielt einen Weltrekord: In 46 Partien verliert er nur zweimal.
Selbst der Computer macht nach 22 Stunden schlapp: Just als Marc Lang seinen letzten Zug auf dem Bildschirm mit den leeren Schachbrettern eingibt, stürzt das überforderte Elektronenhirn ab. Langs Hirn dagegen ist auch nach dem Denkmarathon und neu aufgestellten Weltrekord noch arbeitsfähig - wenn auch vielleicht nicht mehr ganz uneingeschränkt.
Der Schwabe hatte auf seiner "intellektuellen Zirkusveranstaltung" 46 Partien gleichzeitig absolviert - blind! 1.040 Züge lang musste sich der Denkakrobat exakt merken, wo die anfangs 1.472 Figuren auf den 2.944 Feldern postiert waren.
Dank der gigantischen Gedächtnisleistung verlor der 41-Jährige gegen seine Gegner, die volle Sicht auf das Brett genossen, nur zwei Duelle und verbuchte 34,5:11,5 Punkte. "Ich bin hochzufrieden, die Veranstaltung war der Knüller", sagte der euphorisierte Günzburger.
Applaus brandete in Sontheim an der Brenz für diese Gedächtnisleistung auf: Lang steigerte die bisherige Bestmarke um eine Partie. Der argentinische Weltklasse-Großmeister Miguel Najdorf setzte sich vor 64 Jahren an 45 Brettern 39-mal durch, remisierte lediglich vier Partien und verlor auch nur zwei.
Der spielstarke Amateur im Range eines Fide-Meisters (dritthöchster Titel des Weltverbandes Fide) behielt hinter dem Bretterverschlag sogar blind den besseren Überblick als mancher Kontrahent. "In einer Pause analysierten ein paar Spieler auf einem Brett", erinnert er sich.
Bei ihren Gedankenspielen hätten sie die Figuren hin und her geschoben, sie danach aber nicht mehr in die richtige Ausgangsposition zurückgestellt. Als Lang an den Tisch kam und seine nächste Fortsetzung mit der Dame auf das Feld d2 verkündete, reklamierten seine Widersacher einen unmöglichen Zug.
Lang sagt: "Mir unterliefen zwar im Verlauf der 22 Stunden rund ein halbes Dutzend Mal Fehler - in dem Fall an Brett 28 war ich mir aber sicher, dass Dame nach d2 geht." Der Blick des Schiedsrichters aufs Partieformular offenbarte, dass die Sehenden die Orientierung verloren hatten.
Nebenbei noch ein Damespiel
Mit der Kunst des Blindspiels faszinierten die arabischen Meister schon im zehnten Jahrhundert die Kalifen. Als der berühmte Pariser Opern-Komponist Philidor, in Personalunion auch größter Schachmeister des 18. Jahrhunderts, mit verbundenen Augen drei Gegner gleichzeitig schlug, nahmen die französischen Aufklärer Diderot und Alambert diese Sensation beeindruckt in ihre "Enzyklopädie" (1757) auf.
Zur Blüte trieb Harry Pillsbury das Blindspiel. Der amerikanische Gedächtnisakrobat gab um 1900 rund 150 Blindsimultanvorstellungen und spielte zuweilen nebenbei noch Dame, eine Whistrunde und lernte 30 schwierige Wörter auswendig.
Hobbyspieler geraten bereits ins Schwitzen, sollen sie sich fünf Figuren merken. Für starke Meisterspieler wie Lang ist die Gedächtnisleistung weniger schwierig, als der Laie sich das vorstellt.
Könner prägen sich nicht jede der 32 Figuren einzeln ein. Typische Strukturen wie die Stellung mit dem König auf dem Feld g1, dem Turm daneben auf f1 und Bauern auf f2, g2 und h2 speichern sie zum Beispiel schlicht unter "Rochade" ab. Solche Figurenknäuel nennt man "Chunks" (Brocken). Aber auch mehr als sieben "Chunks" kann sich kaum einer merken .
Hauruck-Angriffe
Da Lang im Vorjahr für seinen Europarekord an 35 Brettern bereits 23 Stunden benötigte, rechnete der Schwabe diesmal mit einer 36 Stunden dauernden Ochsentour. Doch es ging deutlich schneller, weil manche Gegner, die hinter dem Bretter-Sichtschutz um Lang gruppiert waren, weniger wach als der körperlich austrainierte Weltranglisten-4.912. wirkten.
Mit seinen gefährlichen Hauruck-Angriffen beendete der zweifache Familienvater 14 Partien früh. Bis zum 20. Zug überbrachte Adjutant Harald Keilhack, der die Züge an die Spieler übermittelte, zwölf Aufgaben. Zweimal resignierte Lang.
Zudem brachten einige Remisangebote bis zur 20. Runde enorme Entlastung. "Es ist kräftemäßig unmöglich, alle Partien bis zum letzten Blutstropfen auszuspielen. Beim Stand von 16:6 ließ mich der Gedanke schaudern, dass noch immer mehr als die Hälfte offen war", berichtete Lang. Morgens um 4 Uhr übermannte ihn ein weiterer toter Punkt: "Wann hat das endlich ein Ende?", fragte er sich. Drei Stunden später war Lang erlöst.
Daran, den Weltrekord auf 50 Blindpartien zu schrauben, verschwendet der Fide-Meister vorerst keinen Gedanken: "Neee, das war schon jetzt grenzwertig!". Die Qual geht schließlich weiter: Der Denkakrobat brauchte im Vorjahr nach dem Europarekord "zwei bis drei Monate, bis alle Partien wieder in meinem Schädel zerfielen".
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