Was taugt die Monatskarte für 9 Euro?: Krieg und Fortschritt

Russlands Angriff auf die Ukraine könnte die Verkehrswende in Deutschland voranbringen. Das mag zynisch klingen, aber es ist eine Chance.

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Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 05.04.22 | Eine Monatskarte für 9 Euro, drei Monate lang und bereits gebuchte Monatskarten unkompliziert erstattet: Mit „9 für 90“ will die Bundesregierung vorübergehend alle Bürger vom Preisschub an den Tankstellen entlasten, der durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine ausgelöst wurde. Dass die Regierung zugleich auch noch die Kraftstoffpreise deckeln will, wird an dieser Stelle kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen.

Die Botschaft soll sein: Die Bundesregierung will den Kollateralschaden, den ihre lediglich passive Unterstützung des Freiheitskampfes der Ukrainer an den Energiemärkten durch Knappheit und Preissteigerungen verursacht hat, für eine Beschleunigung des Ausstieges aus dem exzessiven Verbrauch fossiler Brenn- und Kraftstoffe auch bei der Mobilität nutzen.

Sie rückt die Verkehrswende – weg vom motorisierten Individualverkehr und hin zu einem strukturellen und flächendeckenden Ausbau des ÖPNV – auf der politischen Agenda weit nach oben. Die Bundesregierung will den Verkehrsunternehmen auch die geschätzt 40 bis 45 Millionen Euro an entgangenen Erlösen erstatten, die durch die 9-Euro-Monatstickets verursacht werden.

Flächendeckender Nulltarif

Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) legen noch einen drauf. Sie wollen allen, die bereits ein ÖPNV-Monatsticket gebucht haben, drei Monate lang Freifahrt gewähren und die entgangenen Erlöse selbst abdecken. „ÖPNV statt Sprit – Berlin steigt um“ – das ist die Ansage von BVG-Chefin Eva Kreienkamp in einem Strategiepapier für die Stärkung des ÖPNV.

Die Verkehrsministerkonferenz der Bundesländer vom 25. März ging sogar noch einen Schritt weiter. Deren Vorsitzende, die Bremer Bürgermeisterin Maike Schäfer (Grüne), verkündete die einstimmige Empfehlung ihrer Minister-Kollegen an die Bundesregierung, für die 90 Tage flächendeckend ein Nulltarif-Ticket in allen öffentlichen Verkehrsverbünden einzuführen und die Kosten dafür komplett aus dem Bundeshalt auszugleichen.

An diesem Vorgehen der Bundesregierung und der begeisterten Reaktion der Verantwortlichen für die Verkehrspolitik wird ein neuer strategischer Horizont in der Klimakrisen-Bewältigungspolitik erkennbar. An die Stelle eines nur kurzfristigen Reagierens, eines nur den Protest beruhigenden Krisenmanagements beim Umgang mit der Erderwärmung könnte eine neue Strukturpolitik jenseits aller fossilen Energien treten. An die Stelle eines Wandel antäuschenden „Weiter so“ mit vielen Absicherungen gegen zu große Zumutungen könnte mit dem „9 für 90“ ein Weg zu langfristig nachhaltigen Strukturen in der Verkehrspolitik eingeschlagen werden.

Nun kommt das Aber

Auch in diesem Sektor sind viele Entscheider schon heute bereit, bei sicheren rechtlichen Rahmenvorgaben des Gesetzgebers die Verkehrswende selbst in die Hand zu nehmen. Es gibt allerbeste Voraussetzungen auch und gerade unter den aktuell besonders belastenden Bedingungen des Ukraine-Krieges.

Aber, und nun kommt das aber: Es ist aber völlig unklar, ob die Ampel-Regierung mit ihrem „9 für 9“-Kriegsfolgen- Absicherungsreflex geöffnete Fenster in eine CO2-freie Zukunft einer lebensfreundlichen Mobilität als Baustein der Energiewende tatsächlich weiter aufreißt oder doch an ihrer prinzipiell zu allererst autofreundlichen Verkehrspolitik festhält.

Andere haben diese Frage schon entschieden. Mit dem Klimaticket der österreichischen Umweltministerin Leonore Gewessler für alle öffentlichen Verkehrsmittel und dem Wiener 365 Euro-Ticket für den innerstädtischen ÖPNV ist dem öffentlichen Verkehr in Österreich ein unschlagbarer Kostenvorteil verschafft worden, der das Umsteigen aus dem Auto attraktiv macht.

Schon zwei Monate nach seiner Einführung hatten das Klimaticket 70.000 Bürger abonniert. Inzwischen wird mit dem Klimaticket schon kostendeckend gearbeitet. Zu dieser Politik gehört die Verteuerung und Verknappung des innerstädtischen Parkraumes. Darüber hinaus wird an der Verbesserung aller außer- und innenstädtischen Bahn- und ÖPNV-Angebote sowie einer landesweit einheitlichen Tarifstruktur gearbeitet.

Grundsatzfragen der Verkehrswende bleiben ungelöst

Nur um zu verdeutlichen, wie weit weg die Bundesrepublik von einem solchen Weg in die Verkehrswende noch ist, sei darauf hingewiesen, dass das mit dem Klimaticket vergleichbare Jahresticket der Bahn über 4.000 Euro kostet und nicht übertragbar ist. Und bei der Realisierung des Deutschlandtaktes – einer Verknüpfung der bundesweiten Bus- und Bahnfahrpläne, die in vielen Regionen den ÖPNV überhaupt erst nutzbar machen würde – holpert es sehr. Trotz zahlreicher Lippenbekenntnisse.

Die Neuverteilung des öffentlichen Raumes in den Städten ist der Schlüssel für die Verkehrswende. Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris, verfolgt mit ihrem Konzept der „15-Minuten-Stadt“ das Ziel, Autoverkehr zu vermeiden. Dazu gehört eine radikale Parkraumbewirtschaftung in der Innenstadt sowie die Umwandlung von Autospuren in Fahrradspuren, ÖPNV-Spuren und Grünstreifen. Ganz anders die Bundesrepublik. Hier hat gerade Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) – gegen den Willen des Berliner Senats – die Planung für den Neubau der Autobahn 100 mitten durch die Stadt ausgeschrieben.

Jenseits von „9 für 90“ bleiben alle Grundsatz-Fragen der Verkehrswende in der Bundesrepublik vorerst ungelöst. Aber die jetzt vom Ukraine Krieg geschaffenen Zwänge könnten die Verkehrswende voranbringen. So könnte etwa die Pendlerpauschale abgeschafft werden und die freiwerdenden Mittel in den ÖPNV und kostengünstige Fahrpreise dauerhaft und im großen Stil investiert werden. Dazu müsste die Forderung der FDP, stattdessen die Pendlerpauschale zu erhöhen, zurückgewiesen werden.

Auf den Autobahnen könnten sofort Tempo 130 und autofreie Sonntage eingeführt und die Subventionierung der Spritpreise eingestellt werden. Das Ziel, durch eine staatliche Förderung von Elektro-Autos bis 2030 alle Verbrenner von den Straßen zu holen, ist löblich. Aber die Tatsache, dass diese Förderung vor allem den Kauf von immer schwereren, größeren und leistungsstärkeren E-Schlitten befördert, ist mit einer solchen Agenda für eine Verkehrswende nicht vereinbar.

Krisen bergen Zukunftschancen

Alles in allem: „9 für 90“ könnte zu einem bewusst eingesetzten Instrument ausgeweitet werden, um in der durch den Krieg verschärften Energiekrise die Verkehrswende in der Bundesrepublik zu beflügeln.

Es mag zynisch erscheinen, die Folgen des Freiheitskampfes in der Ukraine für ein Vorantreiben der Energie- und Verkehrswende hier zu nutzen, das Elend der einen in einen Fortschritt für die anderen umzumünzen. Aber eine Verkehrswende weg von den fossilen Brennstoffen im Verkehr und überall, gerade jetzt, kann dazu beitragen alle Energie-Abhängigkeiten von Russland, die für Erpressung, Kriege und Unterdrückung Dritter missbraucht werden, auf Dauer zu beenden.

Ein solcher Schritt kann dazu beitragen, neue Horizonte für eine neue übernationale Zusammenarbeit der Wirtschaft auf ökologischer Basis zu eröffnen. Große Krisen, das ist nun einmal so, bergen neben allem Elend auch große Chancen auf Zukunft.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.

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