Was bisher geschah (6) : Gerettet vor den Khmer
Spricht man von einem „Goldenen Zeitalter“, setzt dies gemeinhin eine Erinnerungskultur sowie eine aktive Auseinandersetzung mit dieser Epoche voraus. Wenn deren Errungenschaften für die Nachwelt jedoch verloren sind, wird die Erinnerungsarbeit zu einer archäologischen Spurensuche. Das Goldene Zeitalter des kambodschanischen Kinos endete mit dem Einmarsch der Roten Khmer in die Hauptstadt Phnom Penh 1975. Der anschließenden Säuberung fielen Millionen von Menschen zum Opfer – und fast die gesamte kulturelle Geschichte des Landes.
Das Berlinale-Publikum wurde sozusagen Zeuge einer Wiedergeburt, als am Dienstagabend der kambodschanische Regisseur und Filmproduzent Tea Kim Koun leibhaftig im Arsenal stand und verkündete: „Vierzig Jahre habe ich meinen Film beschützt, um ihn heute zeigen zu können.“ Koun flüchtete nach der Machtergreifung der Roten Khmer nach Kanada, im Gepäck eine 16-mm-Kopie seines Meisterwerks „The Snake Man“ von 1970. Dass diese Kopie inzwischen so mitgenommen ist, dass eine DVD vorgeführt werden musste, unterstreicht wieder einmal die Fragilität der Kinogeschichte. Der allgemeinen Euphorie tat es keinen Abbruch.
Mitte der neunziger Jahre gehörten die Nachtvorstellungen von Hongkong-Filmen im Delphi Kino zu den Highlights jeder Berlinale. Sitze und Gänge waren vollgepackt mit chinesischen Familien aller Altersklassen, die die Vorstellungen mit lautstarken Kommentaren „übernahmen“. Diese Filmpartys sind allen, die so ein Spektakel einmal erleben durften, nachhaltig in Erinnerung geblieben.
Die Liebe zwischen einer Schlange und einer Frau
Vergleichbar reagierte in den vergangenen Tagen das Berlinale-Publikum auf drei „Khmer-Filme“, die die Vernichtungswelle von Pol Pots Regime überlebt hatten. Was sich auf der Leinwand abspielte, war an Ideenreichtum, folkloristischen Merkwürdigkeiten und im allerschönsten Sinne primitiver Fantasterei nicht zu überbieten. Die Liebesaffäre einer Schlange mit einer jungen Frau bringt ein Schlangenkind hervor, das nach Jahren im Exil der Liebe zu seiner menschlichen Halbschwester verfällt.
In der Geschichte, die einige furiose Wendungen nimmt und teilweise über zehn Minuten in absonderlich komischen Episoden auch gänzlich zum Halt kommt („The Snake Man“ hat eine Länge von 160 Minuten), tauchen unter anderem ein kleiner Junge mit Schlangenhaar, eine sadistische Hexe und sprechende Tiere (Apichatpong Weerasethakul lässt grüßen!) auf; es gibt eine herzerweichende Gesangseinlage und eine für damalige Verhältnisse erstaunlich explizite Sexszene, die nichts enthüllt. Die ehemalige Schönheitskönigin Dy Saveth, die die Schwester spielt, gehörte damals zu den größten Stars der kambodschanischen Kinos. In der Einführung erzählte sie, dass es immer ihr Traum gewesen sei, nach Berlin zu kommen. Als spätnachts die Lichter im Kino wieder angingen, fühlten wir uns, als seien wir selbst gerade aus einem Traum erwacht. ANDREAS BUSCHE