Was bisher geschah (5) : Herzog, die coole Sau
Vor den Türen verteilt Amnesty Kampagnenmaterial gegen die Todesstrafe, aus Shuttlebussen quellen junge Leute, die vom Talent-Campus-Headquarter im HAU herangeschafft wurden und die so glühend wie müde wirken. Der Zuschauerraum im Haus der Berliner Festspiele verfügt über 1.003 Plätze. Gefühlt sind 997 davon belegt, als Werner Herzog dort am Montagnachmittag sein Monstrum „Death Row“ vorstellt.
Trotz der anstehenden über drei Stunden Film herrscht geradezu heiliger Ernst. Der Film porträtiert in vier Episoden Todeskandidaten in US-Gefängnissen und schafft den Spagat zwischen nicht beschönigender Rekonstruktion der Tathergänge und dem ehrlichen Interesse an den Verurteilten als Menschen. In 188 Minuten verlassen höchstens zehn Leute den Saal.
Nach dem Screening steigt Herzog – beordert von einer Dame in leicht unangemessener, halbseitig schulterfreier Abendgarderobe – zum Frage-Antwort-Spiel auf die Bühne. Mit seinem stark bayrisch gefärbten Englisch und dem schick geschlungenen grauen Schal wirkt er auf gute Art distinguiert. Sogar der Berlinale-Bär im Revers sieht bei ihm nicht so kindisch aus wie bei Dieter Kosslick.
Herzog erläutert, warum sein Film nicht aktivistisch gemeint sei. Als Deutscher seiner Generation könne er Amerikanern nicht erzählen, wie ihre Strafjustiz zu funktionieren habe, obschon er nicht finde, dass ein Staat Menschen umbringen dürfe. Um diese Ambivalenz zu markieren, schicke er jeder Episode eine Präambel vorweg, die ob ihrer Haltungsstärke beeindruckt: „As a German, coming from another historical background and as a guest of the United States, I respectfully disagree with the practice of capital punishment.“
Werner Herzog weiß, dass er toll ist. Ob er Ruhepausen brauche? Ach woher, sechs Filme allein im letzten Jahr gemacht, in einer Produktion neben Tom Cruise gespielt, seine „Rogue Film School“ in L.A. an den Start gebracht und bei der Arbeit an „Death Row“ – nicht, dass das keine Spuren hinterlasse! – das Rauchen wieder begonnen. Und wie schnell ihn die Todeskandidaten leiden mochten! Weil er so „straightforward“ und eben kein „bullshitter“ sei, weil er „the heart of men“ kenne und mit unerwarteten Fragen wie zum Beispiel der nach der letzten Begegnung mit einem Eichhörnchen einfach jeden aus der Reserve gelockt kriege.
Ha, man nenne ihm eine Filmschule, die ihren Schülern Derartiges beibringe! Und, ha, diese institutionalisierte Feigheit der Filmversicherer heutzutage – da wird jede staatliche Zensur überflüssig! Werner Herzog, die coole Sau. Als er sich abschließend noch ein ermutigendes „Solche Dokus sind einfach – jeder von euch hätte diesen Film machen können“ abringt, können ihm das nicht allzu viele geglaubt haben. KIRSTEN RIESSELMANN