■ Warum die Estonia unterging und jetzt begraben wird: Verantwortlich? Keiner
Drei Pkws sollten zusätzlich Platz finden. Deshalb wurde ein Fährschiff gegen geltende Sicherheitsvorschriften gebaut, von einer Behörde, die „Sicherheit“ offenbar nur auf dem Namensschild führt, gutgeheißen und von einer Reederei auf eine Route geschickt, für die es schon gar nicht mehr konstruiert war. Und als die Katastrophe da war, starben unnötig viele Menschen, weil die Rettungseinrichtungen bei weitem nicht dem neuesten Stand der Technik entsprachen und man an Land glaubte, beim Bereitschaftsdienst für die Hubschrauberbesatzungen sparen zu müssen.
Mehr als sinnbildlich ist es, wenn die beteiligten Regierungen sich jetzt bemühen, das Thema „Estonia“ endgültig zu begraben, und das Wrack in einem Seefriedhof unter einer dicken Steinschicht verschwinden lassen wollen. Über 900 Menschen mußten sterben, weil von verschiedenen Seiten Stücke aus einem Sicherheitspuzzle herausgenommen wurden. Vom Konstrukteur, der Versicherung, den staatlichen Behörden, der Reederei, dem Kapitän. Etwas, was isoliert genommen jeweils „vertretbar“ erschien: Weshalb es vermutlich auch nie eine juristische Verantwortlichkeit für den Untergang geben wird. Ein Zerstückeln einer Sicherheitsphilosophie, die nicht zufällig unter einem gemeinsamen Nenner stand: dem Kommerz. „Das Schiff ist ausreichend versichert, diese Versicherung deckt auch alle denkbaren Schadensersatzansprüche ab.“ Mit dieser Faxmitteilung reagierte die schwedische Reederei Nordström & Thulin unmittelbar nach der Katastrophe auf die Anfrage nach einer Stellungnahme zum Untergang ihres Schiffes. Kein Wort zu den Opfern. Einfach dieser eine Satz. Ehrlich war das allemal.
Aber keine/r der 40 Millionen Reisenden, die sich jährlich den schwimmenden Schuhkartons auf Ost- und Nordsee anvertrauen, kann sich sicher fühlen. Und scheinen sie noch so sehr allein wegen ihrer Größe zu imponieren. Gerade die allergrößten dieser schwimmenden Hotels sind ein Alptraum für jeden Rettungsdienst, wenn das Katastrophenszenario „Feuer“ auf dem Übungsprogramm steht. In den Hochglanzbroschüren der Reedereien wird das Thema Sicherheit übergangen: die schöne Bar, das gute Essen und der billige Tax-free-Laden sind ja auch viel wichtiger.
Seit die „Estonia“ versank, sind die Buchungen für die Fähren zwischen Finnland, Schweden und Deutschland um durchschnittlich 30 Prozent gefallen. Vermutlich die einzige Sprache, die bei den KalkulatorInnen in den Reedereien wirklich verstanden wird. Reinhard Wolff, Stockholm
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