Warum Gesine Schwan kandidieren will: Die Offensive
Bundespräsidentenkandidatin Schwan begründet ihre Argumente mit Aristoteles, Marx und Hannah Arendt. Das ist selten. Und macht sie für ihren Konkurrenten Köhler gefährlich.
FRANKFURT/ODER taz "Frau Schwan, Frau Schwan, ein Foto!" Es sind offenkundig keine ihrer StudentInnen, die hier beim Sommerfest der Viadrina mit der Unipräsidentin posieren wollen. Vielmehr leicht verlotterte Jungs in Militaryhosen, Bierflaschen in den Händen. Nee, nicht wegen der Uni sind sie hier, stellen sie klar, sondern weil gleich "Knorkator" spielt. Und Frau Schwan kennen sie aus dem Fernsehen. Einer macht fürs Foto den Heavy-Metal-Gruß, die Teufelshörner. Frau Schwan lacht. Knips.
Schwan privat. Geboren am 22. Mai 1943 in Berlin. Die Eltern sind Oppositionelle, während des Krieges verstecken sie ein jüdisches Mädchen. Schwan heiratet 1969 Alexander Schwan, die beiden adoptieren zwei Kinder. Ihr Mann stirbt 1989 an Krebs, 2004 heiratet sie Peter Eigen, den Gründer von Transparency International.
Schwan und die Uni. Schwan studiert Romanistik, Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft in Berlin und Freiburg. Seit 1977 ist sie Professorin für Politikwissenschaft an der FU Berlin, später Dekanin. 1999 wechselt sie als Präsidentin zur Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).
Schwan und die SPD. 1972 tritt sie in die SPD ein. Ab 1977 ist sie Mitglied der Grundwertekommission, in der es bald Streit über den Nato-Doppelbeschluss gibt - den sie für richtig hält. Später gerät sie mit Kritik an der Entspannungspolitik in Opposition zu Brandt. 1984 wird sie auf Betreiben von Peter Glotz abgewählt - ein einmaliger Vorgang. 1996 wird sie wieder in die Kommission aufgenommen.
Schwans Kandidaturen. 2004 trägt ihr Kanzler Schröder die Kandidatur zum Amt der Bundespräsidentin an, sie sagt zu, obwohl sie rechnerisch keine Chance hat. 2009 sind die Verhältnisse verwickelter: Falls Union und FDP bei der bayerischen Landtagswahl schlecht abschneiden, könnte sich in der Bundesversammlung mit der Linken eine Mehrheit für Schwan bilden.
Gesine Schwan stürmt weiter, gleich muss sie eine Begrüßungsrede halten. Am Eingang zum Gelände stehen quadratische Männer und durchsuchen Rucksäcke. Security an ihrer Uni, die sie gerne als "Familie Viadrina" bezeichnet. So ist es wohl, wenn man eine Familie in schwierigem Umfeld gründet. Schwan winkt nach links und rechts, viele wollen sie sprechen, es sind die letzten Wochen, bevor die Mater familias, die Präsidentin der Viadrina, pensioniert wird.
Jemand will ein Autogramm, sie reicht ihm aus Versehen ihren Stichwortzettel. Egal, Gesine Schwan ist unbeirrt. Sie ist eine Frau mit Mission. Sie hat die Viadrina in Frankfurt (Oder) zur Europa-Uni gemacht, in der auf Polnisch, Englisch, Französisch und Deutsch gelehrt wird. Sie hat einen aussichtslosen Wahlkampf um das Bundespräsidentenamt geführt, der ihr und ihrer Stiftungsuni statt Achselzucken Respekt und Geld gebracht hat. Und nun tut sie es schon wieder. Gesine Schwan tritt an.
Ihre Kandidatur ist ein Risiko für die SPD. Sie geht damit auf Konfliktkurs zur Union. Der hatte man schon halb zugesagt, Bundespräsident Köhler mitzuwählen. Und Schwan braucht die Stimmen der Linkspartei - in einer Zeit, in der die SPD um Abgrenzung nach links ringt. Kaum hatte die Partei an diesem Wagnis Gefallen gefunden, purzelten die Umfragewerte. Und nun tut Gesine Schwan das, was sie am besten kann: Sie geht in die Offensive. Gibt Interviews, drängt ins Fernsehen, schiebt die Eröffnung ihres Unifests um eine halbe Stunde nach hinten, weil "die liebe Dame von der taz noch da ist". Schwan geht immer ein Stück weiter, als man denkt.
Das ist vor allem in der Politik ungewöhnlich, wo alle eher Risikoabschirmung betreiben, taktieren, Nullsätze abliefern. Schwan klingt deutlich anders - nicht, als sei jede Äußerung mit der SPD-Spitze abgestimmt. Als "loose cannon", Kanone, die man nicht mehr kontrollieren kann, bezeichnen manche in der Partei sie. Schwan riskiert das. Schon damit überrumpelt sie die politische Republik.
Eine zweite Überraschung folgt, wenn man sich mit Schwan länger unterhält: Sie ist eine Theoretikerin, die in die Politik drängt. Das ist selten. Und eine Politikerin, die ihre Argumente nicht mit dem letzten Parteitagsbeschluss, sondern mit Aristoteles, Marx und Hannah Arendt begründet. Das hat dieses Land lange nicht gesehen.
"Die Theorie hat eine ungemein praktische Bedeutung," sagt Schwan. "Und das ist mein Metier, da kann ich etwas machen." In ihrem großen Präsidialbüro stehen noch Geschenke vom 65. Geburtstag. "Ich möchte", so umreißt sie ihre Aufgabe als mögliche Bundespräsidentin, "das Feld klarer machen. Ich möchte die Ideen, die heute zur Debatte stehen, erklären, ihre Wurzeln, die Interessen dahinter, die Wirkungen und die Unübersichtlichkeit der Wirkungen." Politik würde heute als "Ansammlung taktischer Argumente" dargestellt und der Staat im neoliberalen Diskurs als "Schnorrer", der dem Einzelnen etwas wegnimmt, sagt sie. "Das macht mich unglücklich." Denn das, findet Gesine Schwan, haben Demokratie und Sozialstaat nicht verdient.
Warum nimmt man ihr solche Sätze ab? Es muss damit zu tun haben, dass sie bei ihr nicht hohl klingen, sondern gesättigt. Weil sie sich ihr Leben lang über die Verbindung von Sozialstaat und Demokratie Gedanken gemacht hat. Sie hat über den polnischen Philosophen Leszek Kolakowski und seine "Philosophie der Freiheit nach Marx" promoviert. Hat als Professorin für politische Theorie 1982 ein Buch darüber verfasst, wie "Sozialismus in der Demokratie" funktionieren kann. Gesine Schwan kann in zwei Sätzen umreißen, warum man "Marx, aber in Maßen", braucht.
Schwan hat früher den demokratischen Sozialstaat vehement gegen die Linken verteidigt. Damit galt sie als rechts. Heute will Schwan ebendiesen Sozialstaat ebenso vehement in der Globalisierung retten. Damit ist sie mittlerweile geradezu links.
Die Sozialdemokraten dagegen haben bisher arge Mühe damit, ihre Reformvorhaben zur Rettung des Sozialen als konzises Projekt zu formulieren. Geschweige denn, dass sie es den Menschen nahebringen können. Schwan meint, sie kann: Ja, es gibt die Globalisierung, ja, sie macht Angst. Aber wir haben uns etwas überlegt, wir können etwas tun. Und, nicht zu vergessen: ich, Gesine Schwan, kann es euch erklären. Die SPD wäre blöd gewesen, diesen modifizierten Messianismus nicht für sich nutzen zu wollen.
Eine knappe Stunde zu spät eröffnet Schwan ihr Sommerfest. Auf Deutsch und Polnisch. Damit wäre die Presse eigentlich entlassen. Aber da taucht Schwan wieder auf: "Jetzt hab ich frei", sie schlägt Pasta beim Italiener vor. Der Wind bläst, Frau Schwan hält ihre Lockenfrisur zusammen. Mit dem Kellner beratschlagt sie auf Italienisch den Rotwein und die Tagliatelle. Ja, sie spricht auch noch Französisch und Englisch.
Die Mission der Frau Schwan: Sie glaubt an den demokratischen Prozess. Sie hat keine Patentrezepte und keine revolutionären Ideen. Sie will in ihren verdrossenen Mitbürgern dieses Zutrauen zu den langatmigen Prozeduren wieder wecken. "Hartz IV muss ich mir nochmal genau angucken", gibt sie zu. Aber sie verteidigt den Ansatz: Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit müssten eben immer neu justiert werden, ein Konzept von Aristoteles, übrigens.
Dass nun über Nachbesserungen geredet wird, hält sie allerdings ebenso für selbstverständlich. "So ist Politik heute eben", meint Schwan: "Sie haben Prinzipien, müssen die unter komplexen Bedingungen umsetzen, versuchen etwas - und müssen dann nachsteuern." Wäre Frau Schwan damals Bundespräsidentin gewesen, hätte sie genau dies den Leuten erklärt: "Man muss das vorher sagen! Ich bin überzeugt, dass die Menschen es verstanden hätten" - und dann nicht aus Wut Linkspartei gewählt hätten. Mit Schwan wär das nicht passiert? Das klingt verlockend und zugleich ganz schön vermessen.
Mit einer gewissen Herablassung muss die Linkspartei ohnehin bei Frau Schwan rechnen. Inhaltlich biete die bisher nichts, was Schwan nicht schon vor ungefähr 30 Jahren verworfen hätte: "Eine diffuse Hoffnung auf öffentliches Eigentum und Systemüberwindung ist keine Antwort auf die Globalisierung." Oskar Lafontaine? Tritt zu oft demagogisch auf, und zwar schon früher, in der SPD. Es wundert nicht, dass der Gescholtene schon jetzt zurückkeilt, Schwan möge bei der Wahl im nächsten Jahr nicht auf die Stimmen der Linken zählen.
Aber Schwan lobt auch Linke-Politiker in Brandenburg, die mit ihr die Viadrina als Stiftungsuni durchgekämpft haben. Zu Schwans euphorischem Demokratiebegriff gehört auch das Bündnis mit Ungeliebten. Das ist ihr Ansatz - auch gegenüber der Globalisierung: "Wir haben eben kein Gewaltmonopol im Weltmaßstab. So ist die Realität. Also müssen wir Allianzen schmieden, mit denen wir Regeln für den internationalen Markt festsetzen", mit NGOs und Medien als Kontrollkräften - so propagiert es auch ihr zweiter Mann, Peter Eigen von Transparency International.
Das ist die Weltgesellschaft à la Gesine Schwan. "Ich habe schon als Kind gerne die Leute zusammengebracht und vermittelt", erinnert sie sich. Das war zu Hause, in ihrer politischen Familie, auch nötig. Der Vater war Lehrer, die Mutter Fürsorgerin, die sich keineswegs auf eine klassische Frauenrolle beschränkte. Beide waren aktiv gegen die Nazis. Die Mutter gründete später erfolglos mehrere Parteien, für Frieden und für Frauen. Und wenn die Debattenwogen daheim hochschlugen, hat Gesine vermittelt. Ein unbedingter Wunsch nach Harmonie, danach, dass sich doch alle irgendwie verstehen mögen, treibt sie auch heute.
Doch ihre schöne Welt hat auch etwas von dem Foto, auf dem Gesine Schwan lacht, während neben ihr bierselige Schattenwesen die Teufelshörner zeigen. Wie kann man glauben, dass NGOs multinationale Unternehmen ernsthaft kontrollieren könnten? Das ist Schwans ganz persönlicher utopischer - oder soll man sagen: religiöser - Überschuss: "Die Idee, sich trotz allem ein gutes Leben vorzustellen", hat sie mal geschrieben, "verlangt eine kontrafaktische Glaubenskraft." Schwan, die Katholikin, hat sie, so viel ist klar.
In der teuflischen Realität könnten sich dann vielleicht doch nicht so viele potente Bündnispartner finden. Das ging Schwan schon mit dem Projekt "Humboldt-Viadrina School of Governance" so, an der ethische Wirtschafts- und Politikberatung gelehrt werden soll. Corporate Governance, Social Responsibility, solche Dinge. Wohlgesinnte Stifter sollen diese Schule tragen. Doch die sind rar. Also verbindet Schwan ihr Engagement mit dem Nützlichen.
Als die wegen zweifelhafter Geschäftspraktiken angeschlagene Pharmafirma Ratiopharm ihre Unterstützung in Sachen ethisches Management suchte, fand sie, dass es auch ethisch wäre, ihre Schule mit einem nennenswerten Betrag zu unterstützen.
Mit ähnlich extremer Souveränität hatte Schwan sich schon für ihre erste Präsidentschafts-Kandidatur eine Fünfzig-Millionen-Euro-Spende von der Regierung Schröder für ihre Viadrina erbeten. Bündnispartner muss man gewinnen. Gesine Schwan ist darin in jeder Hinsicht gut.
Ihr großer Vorteil gegenüber ihrem Kontrahenten Horst Köhler ist die Mischung aus Mission und Konzept. Anstatt wie er in hilflose Beschimpfungen gegen die "Monster" der Finanzmärkte auszubrechen, hat sie konkrete Erklärungen und Pläne. Und sie glaubt daran, vehement, bis an die Grenzen der Ignoranz.
Diese Mischung bringt einerseits die Union ins Schwitzen, weil damit auch einige ihrer Wahlleute zu gewinnen sein könnten. Andererseits verleiht sie Gesine Schwan eine Art Teflon-Anstrich: Wenn sie scheitern sollte, hat sie ihre Ideen und Projekte zumindest ein Jahr lang bekannt machen können - für eine Frau mit Mission ist auch das ein Gewinn.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin