■ Wanderungen: Zentrifugalkräfte
Der Migrationsforscher Piet van der Meulen, bis 1993 für die Welternährungsorganisation FAO tätig und derzeit Leiter eines Stadtsanierungsprojekts in Indien, im Gespräch mit der taz.
taz: Können wir heute von einer neuen Wanderungsbewegung sprechen – also nicht mehr vom Süden in den Norden oder vom Land in die Stadt, sondern umgekehrt?
Van der Meulen: Jedenfalls ist die Anziehungskraft, die Städte ausgeübt haben, nicht mehr so stark. Auch wenn der Zuzug aus den armen Ländern weiterbesteht.
Wie erklären sich die Wissenschaftler diesen Wandel?
Leider gibt es bisher kaum Forschungsergebnisse, die über die bekannten Gründe – teures Wohnen, Mangel an Arbeit, schlechte Luft – hinausgehen.
Was also verbirgt sich Ihrer Meinung nach hinter dem Phänomen?
Die Migration zwischen Stadt und Land hat diverse Zyklen durchgemacht. Der bis in die sechziger Jahre hinein unbegrenzte Zuzug wurde seit den siebziger Jahren von einer Art Kreisverkehr abgelöst. Zwar zogen immer noch viele Richtung Stadt, gleichzeitig aber begann eine langsame Abwanderung vieler Städter – zunächst in die Vorstädte, dann weiter hinaus in die Provinz. Von dort aus starteten dann aber viele, nachdem sie ihre finanziellen und gesundheitlichen Probleme in den Griff bekommen hatten, eine neue Karriere – die sie dann in die Stadt zurückführte. Seit den achtziger Jahren nun entwickelt dieser Kreisverkehr starke Zentrifugalkräfte: Immer mehr Personen finden den beabsichtigten Weg zurück in die Stadt nicht mehr – schon aus Gründen der Entfernung, trotz aller vorhandenen Verkehrsmittel. Diese Leute sind darauf angewiesen, sich auf dem Land oder an der Peripherie einzurichten, mit allem drum und dran, also mit Arbeitsplatz und Schule für die Kinder usw. Das schafft wiederum infrastrukturelle Probleme, ganz einfach, weil das moderne Leben von einer starken Konzentration an Produktionsmitteln und Verteilungsmechanismen abhängt. Und die gibt es auf dem Lande nur in beschränktem Maße.
Was hat das für Folgen, etwa für die europäischen Länder?
Daß gerade in einer Zeit, in der solche Stukturen entstehen wie die EU, eine gegenteilige Entwicklung nötiger wäre: die Regionalisierung oder Lokalisierung der Probleme. Tatsächlich aber werden etwa Fördermaßnahmen für Betriebe auf dem Land allenfalls nach dem Gesichtspunkt des „Standortvorteils“ – billige Arbeitskräfte, Steuervergünstigungen – durchgeführt. Das aber bedeutet nur die Verlagerung städtischer Strukturen aufs Land, was den dortigen Bedürfnissen überhaupt nicht Rechnung trägt.
Was wäre zu tun?
Darüber läßt sich nur spekulieren. Ich denke, daß sich Produktionsstruktur und Kultur auf dem Lande im bewußten Gegensatz zur städtischen Art der Lebensgestaltung herausformen müssen.Interview: Werner Raith
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