piwik no script img

WISSEN UND WISSENSCHAFTEuropa entdeckt seine Unwissenheit

■ Worin besteht die Parallele zwischen 1492 und 1992? Sowohl die Entdeckungsreise des Kolumbus als auch die Forschungen von Albert Einstein gehören heute zur Geschichte des widerlegten Denkens. Stets mußten sorgsam gehütete Wirklichkeitsbilder neuen Weltansichten Platz machen. Heute, im Zeitalter technologischer Großforschung, ist die Suche nach dem Unbestimmten verlorengegangen. Nutzanwendung diktiert das Erkenntnisinteresse. Peter Grier porträtiert die Gedanken des US-Historikers DANIEL BOORSTIN

Tatsache ist: Christoph Kolumbus wußte nicht, wohin er fuhr. Als er am frühen Morgen des 3. August 1492 von der Mündung des Rio Tinto absegelte, glaubte er noch, nur ein Siebtel der Erde sei von Ozean bedeckt, der Rest trockenes Land – war dies nicht die Lehre der christlichen Orthodoxie? Er hielt den westlichen Ozean für schmal und glaubte, Asien erstrecke sich viel weiter nach Osten, als es tatsächlich tut. Schließlich war das in vielen der Karten angegeben, die er sorgfältig studiert hatte.

Nach vier Reisen in die Neue Welt glaubte er noch immer, er habe die Ostküste Asiens erforscht. Aber der Weg seiner Entdeckung führte die Europäer schließlich zu der Erkenntnis, daß ihre liebgewonnenen Überzeugungen über die Geographie falsch gewesen waren.

„Das große Hindernis für den Menschen ist die Illusion des Wissens“, sagt Daniel Boorstin, der bekannte amerikanische Historiker und emeritierte Direktor der Kongreßbibliothek. „Die große Bedeutung der Entdeckungsreisen lag in ihrer Entdeckung der Unwissenheit, der Unwissenheit der Europäer über die Welt.“

Dieser rote Faden, sagt Boorstin, verknüpft die Reisen des Kolumbus mit den modernen Forschungsreisen in eine andere Art neuer Welt: Wissenschaft und Technologie. „Von Newton bis Einstein ist die Geschichte der Wissenschaft eine Geschichte des widerlegten Denkens. Nehmen wir die Atomphysik. Das Atom galt einstmals als Einheit, als kleinstes Element der Materie. Schon das Wort Atom drückt das aus, da es im Griechischen (“atomos“) unteilbar bedeutet.

Das ist eine Parabel des Wissenschaftsproblems zu allen Zeiten“, sagt Boorstin bei einem Interview in seinem Büro in der Kongreßbibliothek.

Boorstin glaubt jedoch, daß der Menschheit in den letzten 500 Jahren etwas verlorengegangen ist. Einst bedeutete Entdeckung etwas Physisches: daß man sich in das Unbekannte warf. Heute ist es die Beschäftigung eines Menschen im weißen Kragen, der sich dabei über sein Gehalt oder seine Promotion Gedanken macht.

Es gibt einen realen Unterschied zwischen Erfindern und den Menschen, die Boorstin Fragende nennt, wie Kolumbus. Erfinder konzentrieren sich auf etwas Spezifisches, sagt Boorstin, das ein identifiziertes Bedürfnis befriedigen soll. Sie arbeiten an Computern, die auf die gesprochene Stimme reagieren sollen; an Autos, die drei Liter Benzin auf hundert Kilometer verbrauchen. Sie arbeiten am Vorstellbaren. Boorstin spricht ein bißchen geringschätzig von Thomas Edison, der bei seiner Forschung über Glühfäden bestimmte Aspekte der Atomphysik entdeckte, denen er jedoch aus Gleichgültigkeit nicht weiter nachging: „Edison war an Wissen nicht interessiert. Ihn interessierte das Geld“, sagt Boorstin.

Fragende dagegen halten sich nicht an die Regeln der Kosten- Nutzen-Rechnung, sagt Boorstin. Sie wissen nicht wirklich, wohin ihre Entdeckung sie führen wird, und es macht ihnen auch nichts aus. Sie leben in einem Zustand höchster Unruhe.

Die technologischen Forschungen von heute unterscheiden sich von den geographischen auch in der Geschwindigkeit. Es dauerte Jahrhunderte, bis die Begegnung des Kolumbus mit dem Westen in ihrer vollen Bedeutung deutlich geworden war. Das Automobil verwandelte innerhalb von Jahrzehnten den Verkehr; der Transistor in Jahren. Die Innovationszyklen einiger Computerteile lassen sich heute in Monaten messen. Und natürlich veränderte die Explosion des Atoms die Welt in der Zeit eines Wimpernschlags.

Mit dieser Geschwindigkeit geht die Unvorhersehbarkeit einher. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß gerade jene, die die Macht der Technologie freisetzen, nicht viel Kontrolle darüber haben, wohin sie geht. „Selbst wenn Menschen denken, sie wüßten das Warum ihrer technologischen Revolution, wie es für Albert Einstein tatsächlich noch galt, täuschen sie sich“, schreibt Boorstin in seinem Buch Die Republik der Technologie.

Und die mit der Technologie einhergehenden Komplikationen sind irreversibel. Die Antike hat vielleicht ihren Reiz, und es gibt auch moderne Thoreaus, die freiwillig nach dem einfachen Leben suchen, aber der größte Teil der Welt begibt sich ohne einen Blick zurück in die Zukunft. „Der Weg der Modernität ist erbarmungslos“, schreibt Boorstin.

Boorstin hat sich in den letzten Jahren der Rolle der Entdecker zugewandt. Seit er vor vier Jahren den Posten des Direktors der Kongreßbibliothek aufgab, war er damit beschäftigt, eine Fortsetzung seines umfangreichen Werkes Die Entdecker (1983) zu schreiben, in dem er sich mit allem auseinandersetzte – von der Entwicklung des babylonischen Mondkalenders bis zu Michael Faradays Arbeiten mit elektrischen Feldern.

Das neue Buch, das Die Schöpfer heißen soll, wird nächstes Jahr erscheinen. „Es handelt von Künstlern und ihrer Suche“, sagt er. Nach einer Laufbahn als Fachmann für rein amerikanische Geschichte wandte er sich diesen Arbeiten zu, weil er an Themen von umfassenderer Bedeutung arbeiten wollte; und als das Umfassendste erschien ihm, wie der Mensch sich selbst verwirklicht.

Daniel Boorstin

Professor für Geschichte, war bis zu seiner Emeritierung Direktor der Library of Congress in Washington.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen