WISSEN UND WISSENSCHAFT: „Die Unfähigkeit, das Wissen zu teilen“
■ Meinungsfreiheit und ungehinderte Verbreitung von Information nennt er das „gläserne Weltdorf“. Sie sind seiner Ansicht nach die beste Garantie gegen Mißbrauch neuer wissenschaftlicher Entdeckungen. Der 57jährige Spanier steht seit November 1987 an der Spitze der UNESCO. Miguel Angel Bastenier und Javier Valenzuela im Gespräch mit FEDERICO MAYOR ZARAGOZA
WORLD MEDIA: Unser Jahrhundert hat große wissenschaftliche und technologische Fortschritte gebracht, aber auch Weltkriege, die Atombombe oder den Holocaust. Der Triumph der Wissenschaft scheint das menschliche Handeln nicht rationaler gemacht zu haben. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?
Federico Mayor Zaragoza: Man kann nicht die wissenschaftlichen Entdeckungen für die Bedrohungen unserer Zeit verantwortlich machen. Ich glaube, daß Wissen immer positiv ist. Negativ und sogar pervers ist manchmal die Verwendung des Wissens durch Regierungen und Intellektuelle.
Worauf führen Sie die Ernüchterung eines großen Teils der öffentlichen Meinung über die Fähigkeiten der Wissenschaft zur Lösung der großen Menschheitsprobleme zurück?
Wir haben ein kurzes Gedächtnis und erinnern uns nicht mehr daran, daß das Penicillin und andere Arzneien Krankheiten wirksam bekämpft haben, die noch vor kurzer Zeit die Menschen dahinrafften. Wir scheinen auch vergessen zu haben, wie wunderbar es ist, daß die Menschen heute blitzschnell von einem Ende der Welt zum anderen miteinander kommunizieren können. Die Ernüchterung besteht darin, daß alles in Vergessenheit geraten ist, was wir erreicht haben. Sie besteht auch im Vergessen der heutigen Ungleichgewichte. Denn während wir vom Wunder der Nachrichtenübermittlung sprechen, müssen die Einwohner von 600.000 Dörfern in der Welt bis zu 30 Kilometer zu Fuß gehen, um auf ein Kommunikationssystem zu stoßen. Ganz Afrika, einschließlich Südafrika, Ägypten und Marrokko, hat weniger Telefone als die Stadt Tokio. Dies sind die alltäglichen Probleme, mit denen sich der Generalsekretär der UNESCO herumschlägt, Probleme, die dadurch entstehen, daß 20 Prozent der Menschheit 80 Prozent der Ressourcen für sich beanspruchen.
Das letztere scheint eher ein weiteres Argument gegen die Fähigkeit der Wissenschaft zu sein, die Welt in ein Paradies zu verwandeln.
Es stimmt schon: während wir in Paris, Tokio oder New York die Vorteile der Glasfaser gegenüber dem Kupferkabel entdecken oder überlegen, welches Hochauflösende System wir beim Fernsehen einführen sollen, kämpft der Großteil der Menschheit ums Überleben. Noch immer verhungern täglich 20.000 Kinder. Das große Problem der Welt sind nicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern die Unfähigkeit, sie zu teilen. Wir haben uns daran gewöhnt, daß es eine reiche und privilegierte Gesellschaft gibt und daneben eine andere, in der es für die meisten Menschen nur um die Frage geht, wie sie bis zum Abend überleben. Wenn wir heutzutage diese Situation akzeptieren, machen wir uns mitschuldig.
Vielleicht geht dieser tiefe Graben zwischen einer Minderheit von Ländern und dem Rest der Menschheit auf 1492 zurück, das Jahr, das den wissenschaftlichen und damit politischen und wirtschaftlichen Aufschwung Europas symbolisiert?
Tatsache ist, daß der Fehler von 1492, die geistige Unfähigkeit, das Wissen zu teilen, fortbesteht. Das Wissen gehört weiterhin einem Teil der Menschheit, der erkannt hat, daß Wissen Macht ist und es im eigenen Interesse nutzt.
Wir erleben den Triumph des Liberalismus: Wenn ich Wissen produziere, verkaufe ich es so teuer wie möglich.
Ich bin nicht einverstanden mit der Idee, daß wir den Triumph des Liberalismus und des Kapitalismus erleben. Wir erleben den Triumph der Freiheit. Der freie Markt ist nur ein Merkmal eines Teils der Welt, der mit seinem System über ein anderes gesiegt hat, weil es im Gegensatz zum unterlegenen System nicht auf Unterdrückung, sondern auf Freiheit beruht. Wenn wir die Sehnsucht nach Teilen und gerechter Verteilung nicht mehr haben, dann verlieren wir, was unseren Träumen Nahrung gibt.
Wie können sich die kulturellen Minderheiten vor der Uniformierung von Kleidung, Sprache, Denken, Essen und Handeln schützen, die von den Massenmedien diktiert wird und die der französische Philosoph Alain Finkielkraut die „Benettonisierung“ des Planeten genannt hat?
Wir müssen unsere Begriffe von Demokratie, friedlichem Zusammenleben und Toleranz verfeinern. Toleranz, wie wir von der UNESCO sie propagieren, ist nicht nur Geduld. Toleranz ist vielmehr Verständnis für eine andere Kultur, die man kennenlernt und bewundert. Toleranz ist nicht nur eine ethische, sondern auch eine ästhetische Haltung.
Sie scheinen mehr einen Wunsch als die Realität auszudrücken.
Jeder Wissenschaftler trachtet danach, über die Realität zu hinauszugehen. Die Realität kann man nicht verändern, wenn man sie nicht kennt und wenn man sie nicht zu überschreiten trachtet. Sicherlich gebe ich einer Sehnsucht Ausdruck, aber ohne Sehnsucht gibt es keinen Fortschritt. Um aber auf Ihre vorige Frage zurückzukommen: Ich sehe durchaus, daß die Vielfalt des Kulturerbes der Menschheit in Gefahr ist, weil eine Handvoll Länder eine so enorme Fähigkeit zur Produktion kultureller Güter, darunter Informationsgüter, hat, daß sie den Rest des Planeten damit überflutet und ihm eine gewisse Uniformität aufzwingt. Die UNESCO verteidigt die Meinungsfreiheit; sie stellt auch fest, daß es viele Länder gibt, die ihre Meinung nicht zum Ausdruck bringen können, weil es ihnen an Fachleuten und materiellen Mitteln fehlt.
Der Traum von der wissenschaftlichen Vernunft kann Ungeheuer gebären. Welche Garantie haben die Menschen, den Mißbrauch der neuesten Entdeckungen zu verhindern?
Die Freiheit ist ihre einzige Garantie. Nur im Rahmen der Freiheit können Wissenschaftler ihre Stimme erheben und Ereignisse verändern.
Gibt es denn keine konkreten Mittel, um Verrücktheiten beispielsweise auf dem Feld der Biogenetik zu verhindern?
Nun gut, nehmen wir als Beispiel das menschliche Erbgut. Das erste, was ich tat, als ich als Professor der Biochemie hierher kam: Ich setzte mich mit der Human Genome Organization (Gesellschaft für Menschliches Erbgut) in Verbindung und sagte ihnen: „Denken Sie daran, daß Sie mit etwas arbeiten, was uns allen gehört. Ich verlange zumindest zu wissen, was Sie tun.“ Ich bot ihnen an, daß die Wissenschaftler die Arbeit der Organisation fortsetzen könnten und erinnerte sie an unser Recht auf Einmischung. Wenn wir glauben, daß das, was die Supermächte der Wissenschaft tun, gegen die gemeinsamen Interessen der Menschheit verstößt, haben wir das Recht, über die UNESCO zu intervenieren; dazu ist sie da. Im Ergebnis wurde eine Internationale Beratungskommission für Menschliches Erbgut geschaffen, die sich zweimal im Jahr unter dem Vorsitz des spanischen Professors Santiago Grisolia trifft. Diese Kommission erstattet mir Bericht.
Aber der Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis und der wissenschaftlichen Erfindungen läßt sich nicht kontrollieren. Kontrollieren kann man nur die Anwendung, durch internationale Mechanismen und ein System öffentlicher Freiheiten. Die große Frage in der Biogenetik ist, ob alles Machbare auch moralisch vertretbar ist. Und wieder stellen wir fest, daß moralisch Unvertretbares nicht in der Forschung begründet liegt, sondern in mißbräuchlicher Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Wer kann verhindern, daß ein bestimmtes Unternehmen oder ein bestimmtes Land Menschen klont?
Schreckliche Manipulationen sind nur in repressiven Systemen durchführbar. Erst ein Besuch in Auschwitz macht einem klar, daß dort, aber auch nur dort, solche Manipulationen möglich waren. In einer Welt, die zum gläsernen Dorf geworden ist, sind das Gewissen der Wissenschaftler und der öffentlichen Meinung der Kontrollmechanismus. Es ist unvorstellbar, daß heute jemand versuchen würde, Menschen zu klonen, ohne daß dies bekannt würde. Und wenn es doch jemand versuchen sollte, würde das Recht auf Einmischung greifen. Weltweite Transparenz, „Glasnost“, ist die Lösung.
Sie sind Optimist.
Ja. Ich bin auch Optimist, was die finanziellen Mittel angeht, die benötigt werden, um den Graben zwischen der reichen Minderheit und der armen Mehrheit auf unserem Planeten zuzuschütten. Gibt es etwa keine Finanzmittel auf einer Welt, auf der allein die Entwicklungsländer im Jahr 1990 300 Milliarden Dollar für Rüstung ausgeben? Und in der die Industrieländer im selben Jahr 980 Milliarden Dollar für militarische Zwecke aufgebracht haben? Es lohnt nicht mehr, kostspielige Zerstörungsmittel anzuhäufen, die vom Gegner schlicht durch Computeroperationen zerstört werden können. Als erster hat Michail Gorbatschow dies verstanden. Im 21. Jahrhundert kann endlich damit begonnen werden, im Geschichtsbuch der Menschheit das Kapitel über den Frieden zu schreiben.
Federico Mayor war Professor für Biochemie und spanischer Minister für Bildung und Wissenschaft, bevor er 1987 zum Generaldirektor der UNESCO gewählt wurde.
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