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■ Botschaften aus einer autonomen Wirklichkeit: Amsterdams erfolgreiche Anti-Olympia-Kampagne

Ein olympischer Fackelläufer rennt durch Berlin, klettert über Autos, die im Stau steckengeblieben sind, fällt in ein Bauloch, rappelt sich auf, gerät in einen Krawall, gibt einer Haßkappe höflich Feuer für ihren Mollie, muß einer Skinheadgruppe, die ihn als Ausländer identifiziert, eilig entfleuchen, rutscht in Hundescheiße aus und wird, resigniert am Boden verharrend, schließlich seiner gesamten Habe beraubt. Ein wunderbar realistisches Szenario für ein Berliner Anti-Olympia-Video; allein, die Idee dazu ist nicht neu. Sie stammt von der Amsterdamer Nolympics-Bewegung, der bislang erfolgreichsten Gruppe von Olympia-Gegnern.

Dokumentiert werden deren Aktivitäten in dem Buch Bewegungslehre — Botschaften aus einer autonomen Wirklichkeit, herausgegeben von der Amsterdamer Agentur Bilwet, die sich die „Förderung der illegalen Wissenschaften“ zum Ziel gesetzt hat. Beschrieben wird die Geschichte der Turbulenzen, die die Grachtenstadt in den achtziger Jahren heimsuchten, und die mit den Hausbesetzungen Ende der Siebziger ihren Anfang nahmen. „Der Rauch, den die Bewegungslehre ausstößt, riecht nicht nach Myrrhe, Weihrauch oder Goldstaub, sondern nach Tränengas, Autoreifen und Matratzen“, schreibt der Philosoph Mik Ezdanitoff in seinem Nachwort.

Am Anfang steht jedoch das Ereignis. Ziel der Abhandlung ist es, zu analysieren, wie aus dem spontanen, gemeinsamen Handeln, in diesem Fall den ersten wildwüchsigen Besetzungen, die „Bewegung“ — ein deutsches, in Amsterdam anfangs äußerst ungeliebtes Wort — entsteht. „Die Bewegung ist die Erinnerung an das Ereignis“, konstatiert Bilwet, und sie bringt die Szene hervor. „Die Szene ähnelt dem Kaffeehaus des 18. Jahrunderts, dem Salon des 19. Jahrhunderts, der Loge, den Gruppen und Schulen der Künstlerkreise, der kirchlichen Gemeinde, kurzum all den (in)formellen Institutionen, die die Erinnerung an ein Ereignis mit einem Lebensstil verbinden, in dem das Versprechen der Wiederkehr kultiviert wird.

Die Szene rechtfertigt ihre Existenz, indem sie sich auf neue Betätigungsfelder — von Antifaschismus über Anti-Olympia bis zur Selbstzerfleischung — stürzt. Doch „eine Bewegung wächst — oder sie stirbt ab“, heißt es im Vorwort. „An einem bestimmten Punkt hat die Bewegung ihr Ende erreicht, und es bleiben diejenigen, die, in den alten Wort- und Aktionshülsen gefangen, nicht merken, daß die Zeit längst an ihnen vorbeigegangen ist.“ Die letzten Getreuen der Bewegung ähneln dann den japanischen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg, die man nach Jahrzehnten auf entlegenen Inseln im Pazifik fand.

Das Buch Bewegungslehre erzählt diese Prozesse vom „ursprünglichen Besetzen“ bis zum „lärmenden Abgang“ anhand einer Vielzahl von Augenzeugenberichten, und eines der Kernstücke ist der Kampf gegen Olympia, das „Konzept Imagebeschmutzung“. Wie ein Schatten klebten die Gegner der Amsterdamer Bewerbung für die Spiele 1992 an den Befürwortern, deren Aktionen sie stets leicht verfremdet wiederspiegelten.

Eine Anti-Olympia-Charta ging an alle Nationalen Olympischen Komitees; als die Olympia-Lobby Diamanten an die IOC-Mitglieder versandte, schickten die Olympia- Verächter Päckchen mit Marihuana; für die an sämtliche Olympier verschenkten Videorekorder wurde erwähntes Video geliefert; eine inflationäre Verwendung der olympischen Symbole durch die Nolympics sorgte für ihre Entwertung; bei den internationalen Golfmeisterschaften wurden einige Löcher umgegraben und schließlich ließ man keine Gelegenheit aus, dem IOC selbst auf den Wecker zu fallen, zum Teil recht drastisch. Aktionist Flip: „Der Prinz von Monaco bekam einen Rotzbrocken ins Gesicht, das war lustig.“

Hinzu kam, daß die Bewegung mit Saar Boerlage, einer „freundlichen Dame in mittleren Jahren“, über eine äußerst respektable Sprecherin verfügte, die nichtsdestotrotz stets konsequent blieb. Als nach einem Bombenanschlag auf die „Stiftung Olympische Spiele“ die Presse bei ihr anrief, um die eilfertige Distanzierung entgegenzunehmen, sagte Madame Boerlage: „Selbst wäre uns sowas zwar nie in den Sinn gekommen, aber jetzt, wo es passiert ist, sind wir ganz froh darüber.“

Im Oktober 1986 war es dann soweit. Eine hohnsprudelnde Meute empfing die gescheiterte Olympia-Delegation nach der entscheidenden IOC-Sitzung am Flughafen. „Ein wunderbares Nein. Haha, hihi“, lautete ein Transparent, „Vier Millionen Gulden pro Stimme“ ein anderes. 20 Millionen Gulden hatte die Olympia-Kampagne gekostet. Amsterdam erhielt genau fünf Stimmen. Matti

Agentur Bilwet: Bewegungslehre — Botschaften aus einer autonomen Wirklichkeit. Edition ID-Archiv, c/o AurorA, Knobelsdorffstr. 8, 1000 Berlin 19; 200 Seiten, 25Mark, ISBN: 3.89408-012-41.

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