WIE MEDIEN MIT DER VIDEOBOTSCHAFT DES AMOKLÄUFERS UMGEHEN : Dramaturgie der Gewalt
Der Student, der auf einem US-Campus 32 Menschen erschoss, hat sein Ziel erreicht: Weltweit wurden seine Videoclips gezeigt, weltweit wurden seine Botschaften verbreitet. Genau so, wie er es sich gewünscht hatte. Der traurige Tagesruhm zeigt bereits Wirkung. Es gibt erste Drohungen möglicher Nachahmungstäter. Wie fast immer in solchen Fällen. Lässt sich das nicht vermeiden?
Nein, das lässt sich nicht vermeiden. Zweierlei können alle Gewalttäter erzwingen: Trauer und Öffentlichkeit. Ob ein Staat sich erpressen lässt, ob eine Justiz mildernde Umstände akzeptiert, ob ein Täter als Verbrecher oder als Held zu gelten hat – über all das kann eine Gesellschaft diskutieren. Aber niemand kann beschließen, nicht traurig zu sein, wenn Nahestehende getötet werden. Und weder Verbote noch journalistische Standesregeln werden verhindern, dass sich herumspricht, was eine nennenswerte Zahl von Leuten interessiert.
Das Internet erschwert Zensur. Aber es ist nicht die Ursache des Problems. Nachahmungstaten hat es auch schon vor der Erfindung von Radio, Fernsehen und Computer gegeben. Goethes „Werther“ zog eine Selbstmordwelle nach sich. Von 1775 bis 1825 war in Leipzig deshalb die Verbreitung des Werkes verboten, das den Freitod eines unglücklich Liebenden glorifizierte. Genutzt hat es nichts.
Bis zu einem gewissen Grad können Gewalttäter anderen ihre Dramaturgie aufzwingen. Was für Selbstmörder und psychisch gestörte Einzeltäter gilt, gilt in noch viel stärkerem Maße für Terroristen. Sie brauchen die öffentliche Reaktion auf ihre Taten unbedingt, um überhaupt Wirkung zu erzielen. Hätten Medien deshalb über die Anschläge des 11. September nicht berichten sollen? Absurd.
Medien sind nicht völlig wehrlos. Der gelegentliche Verzicht auf detaillierte Berichterstattung und auf verstörende Bilder mag den Blick der Allgemeinheit auf die Gesetze von öffentlicher Darstellung und Selbstdarstellung schärfen, wenn er begründet wird. Außer Kraft setzen können Medien diese Gesetze jedoch nicht. Demokratische Gesellschaften müssen das aushalten. Auch das.
BETTINA GAUS