WENN TIERE EIN GESICHT BEKOMMEN : Der Bulle Olsen
KATRIN SEDDIG
Seit Mai rennt in Bad Harzburg ein kleiner Bulle durch den Wald und erfreut Spaziergänger und erbost die Jäger. Der Bulle heißt Olsen, und das ist also jetzt so eine Sache. Denn das Tier hat einen Namen und hat ein richtiges Gesicht, wenn er aus dem Gehölz bricht, wie ein großes, wildes Waldtier, und dann aber nur da steht und ein bisschen neugierig guckt. Jetzt, wo der kleine Bulle eine öffentliche Geschichte hat und einen ein bisschen bewundernswerten, mutigen Charakter, wo er ein Ausreißer ist, der sich allein und allen zum Trotz schon so lange im Wald aufhält und seine Freiheit lebt, jetzt ist er in die Herzen der Bad Harzburger gekrochen. Er wird also fotografiert und in der Zeitung besprochen, die Leute wollen auf gar keinen Fall, dass dem kleinen Olsen noch was passiert. Der kleine Olsen ist nämlich einer, der es verdient, dass die Leute sich um ihn kümmern.
Wir erinnern uns. Es gab mal einen Problembären Bruno. Das war auch ein Tier mit einem Gesicht und er war auch in der Zeitung. Und dann gab es Knut, den Eisbären aus dem Zoo. Und irgendwann mal gab es einen kleinen Kaiman in einem Baggersee. Und vielleicht gab es auch mal ein Huhn oder ein Schwein, die irgendwie regional berühmt waren. Es gab sogar einen Kraken Paul, der ein Fußballorakel war. Und alle diese Tiere hatten ein Gesicht, mit dem sie uns anguckten. Wenn man angeguckt wird, dann kann man nicht so sein. Das geht vielen Menschen so. Deshalb schließt man das Tier in sein Herz, ausnahmsweise. So, wie man auch den eigenen Hund, die eigene Katze und den eigenen Fisch in sein Herz schließt. Man kauft ihm Futter, kümmert sich um seine Ausscheidungen und hat ganz echte Gefühle.
„Wer Olsen erschießt, sollte die Stadt Harzburg tunlichst verlassen“, zitiert die Goslarsche Zeitung aus einem Leserbrief. Viele andere Bad Harzburger denken sicher ebenso. Ich würde sogar behaupten, dass die Stadt Bad Harzburg ungefähr einen guten Schnitt durch das deutsche Tierliebhabervolk darstellt. Die einen schwärmen für einen Kraken, die anderen für einen Bären. Erschießen möchte keiner den einen Bären oder den anderen Bullen, weil der Bulle ihm gegenüber das Gesicht hat und ein Leben, das irgendwie mit seiner Geschichte an das Leben der Leute anstößt.
Das verstehe ich, das kann ich nachvollziehen. Ich bin so aufgewachsen, mit Hühnern und Schweinen und Schafen und Hunden und Katzen und Vögeln und allem, wie es so ist, auf dem Lande. Man lernt sie persönlich kennen und man muss irgendwann erfahren, dass sie abgemurkst werden. Später dann, wenn die Mutter die unangenehme Rupf- und Ausnehmarbeit erledigt hat, isst man sie zum Mittag. Deshalb haben die meisten Tiere auf unserem Hof keine Namen gehabt, deshalb waren es nur namenlose Fleischtiere. Dennoch, sie lebten ohne Qual und starben rasch. Sterben ging zack, zack. Dann waren sie Fleisch. Das ist so. Darüber kann man nachdenken, auch als Kind, man tut das auch. Und man zieht solche oder solche Schlüsse.
Was ich aber nicht verstehe: Diese ganzen Leute, die die Knuts und die Olsens in ihre Herzen schließen, die kaufen auch das günstige Fleisch in den günstigen Supermarktketten und kaufen das, WEIL das günstig ist. Die Supermarktketten sind voll von billigen Fleischbergen, weil die meisten Leute das kaufen. Da kann man sich nichts vormachen. Und können sich die Leute, die doch alle tendenziell ein Herz haben, können die sich gar nicht vorstellen, dass das Olsens in schlimmster Knechtschaft waren? Und haben sie nicht jede Menge Verachtung, für Leute, die was von Bio erzählen?
Ich habe auch Verachtung für Leute, die bekehren wollen. Lasst mich in Ruhe. Aber ich kann mich nicht unwissend machen. Wenn der Bulle Olsen abgeschossen werden würde, hätte er mehr schöne Tage gehabt, als jedes Stallvieh. Er würde nicht in LKWs gequetscht und nicht verängstigt in Schlachthöfe getrieben, er wäre einfach nur rasch tot.
Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen.