WENN RABEI UNS BESUCHT, MIT ALL SEINEN GESCHICHTEN ÜBER SYRISCHE GEFÄNGNISSE UND DÄNISCHE BEHÖRDEN, DANN SCHLAFE ICH DANACH SCHLECHT: In Räumen ohne Draußen
VOGELFLUGLINIE
von Rebecca Clare Sanger
Dass es Schlimmeres gibt, und dass die Menschheit so was schon seit ihrem Anbeginn gemacht hat: Das ist mein elendiger Trost, mein einziger Trost. Rabei ist schon längst zuhause, aber ich bin noch bei ihm im Gefängnis. Oder eher: bei der Frau und ihrem kleinen Sohn, zu dem der Gefängniswärter Rabei geführt hat, eines Nachts, als der Junge mal wieder geheult hatte.
Der Wärter hatte Rabei in der Einzelhaft mal eine Banane zugeschoben, oder eine Apfelsine, und eines Nachts hatte er ihn durch die Gänge geführt, tiefer ins Gefängnis hinein, in das Zimmer ohne Fenster, wo der kleine Junge untröstlich weinte, die Mutter drängte sich in eine Ecke, denn sie hatte Angst, und Rabei erzählte eine Geschichte, damit der Junge zu weinen aufhören möge. „Es war einmal ein Narr“, fing er an – „Was ist ein Narr?“, fragte der Junge. Und Rabei versuchte es mit einem anderen Anfang: „Es war einmal ein Vogel, der lebte in einem Baum.“ – „Was ist ein Baum?“ Und Rabei wusste, er würde eine tröstende Geschichte erfinden müssen, die Gefängnismauern zum Thema hat, und die eigene Mutter, gelähmt vor Angst und den laufenden Vergewaltigungen; einen Raum, ohne Tag, ein Draußen oder gar Hoffnung. Nach ein paar Stunden bat Rabei den Wärter dann, ihn wieder in seine Einzelzelle zurück zu bringen.
Sollte er da jemals herauskommen, würde er der Menschheit von dieser Frau erzählen. Man würde sie befreien können, Rabei merkte sich das, was er für ihren Namen hielt, den Rest brauchte er sich nicht zu merken: Der Rest kam nachts sowieso in seinen Träumen zurück.
Als er dann wieder draußen war, war noch nichts besser geworden, 2012 sollte sich nur als der Anfang herausstellen. Und er veröffentlichte nicht das Handyphoto, das er vor der Einzelhaft von sich und seinen gut 200 Zellengenossen gemacht hatte: übereinander liegend wie im Massengrab. Und er erzählte auch niemand von der Frau, die schon unter Assads Vater ins Gefängnis gesperrt worden war, das erfuhr Rabei aber erst später. Ihr Mann war 1982 ums Leben gekommen, als Aufständischer beim Massaker von Hama, und als sie ein paar Jahre später aus dem Exil im Libanon in ihre Heimatstadt zurückkehrte, nun, der Rest ist Geschichte. Und der Sohn ist das Kind eines ihrer vielen Vergewaltiger.
So was haben wir immer schon gemacht. Immer schon hingekriegt: ein schwacher Trost. Alles, woran die Gesellschaft zu glauben scheint, in der ich lebe: überhaupt kein Trost. „Anfangs waren wir noch empört, wenn einem Demonstranten auch nur in die Hand geschossen wurde“, sagt Rabei. „Nun sehen wir Leichen in Stücken über die Hauswände verteilt – und wir fühlen gar nichts mehr.“
Leider haben wir Rabei nicht so oft zu Besuch, wie wir es gerne hätten. Gerade versucht er, im Sudan Asyl zu finden für sich und seine Familie, und telefoniert deshalb andauernd mit verschiedenen Nummern zu komischen Tageszeiten in den Warteschleifen der Botschaften von Ländern, die wir für undemokratisch und unterentwickelt halten. Aber hier in Dänemark dauert das Verfahren zu lange und es gibt juristisch keine Handhabe, diesen undurchsichtigen Warteprozess zu verkürzen.
Wenn Rabei gegangen ist, kann ich nachts nicht einschlafen. Aber nun kommt der Frühling, ich fahre mit dem Hund durch die Krokusse und die Schneeglöckchen und ich kümmere mich ausschließlich um mein eigenes Bier, und, Gott!, was geht es mir besser.
Rebecca Clare Sanger pendelt mit Mann und Kindern zwischen Hamburg und der dänischen Insel Møn; was sie dabei erlebt, steht – mit kleineren Ausnahmen – 14-täglich an dieser Stelle.
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