WELTUNTERGANGSALARM IN DER REGION NEW YORK : Großer Regalblizzard
OPHELIA ABELER
Das Einzige, was dieser vermeintliche Schneesturm New York wahrscheinlich gebracht hat: Endlich wurden die Weihnachtsbäume weggeräumt, die sonst bis März am Straßenrand liegen – und das auch nur, weil es sonst nichts zu tun gab. Das bisschen Schnee war schnell geräumt, aber zum Strafzettelverteilen waren die Autos dann doch etwas zu sehr eingeschneit – kein leichtes Rankommen an die Scheibenwischer, also mal ein Auge zugedrückt.
Bestimmt war es aber trotzdem gut, den Ernstfall zu proben, auch wenn Bürgermeister Bill de Blasio sich jetzt in den Hintern beißt wegen der übertriebenen Worte, die er an seine Mitbürger gerichtet hat und die dann beim nächsten Mal schon verbraucht sind, wenn es vielleicht wirklich dramatisch wird. Überhaupt wohnt den Vorbereitungen auf eine Naturkatastrophe ja eine ganz eigene Dramaturgie inne, die, wenn es dann doch nicht zum Äußersten kommt, alle am Schluss etwas belämmert dastehen lässt.
Paläodiät ist nicht
Der wahre Blizzard in New York fand bereits am Montag in den Supermärkten statt. Schon am Nachmittag waren die Regale leer gefegt, und wer es geschafft hatte, noch ein Laib Brot oder ein Suppenhuhn zu ergattern, behielt seinen Einkaufswagen besser im Auge – denn der war keinesfalls sicher vor dem Zugriff panischer Mitmenschen, die, vom Stammhirn gesteuert, ihren Anstand vergessen hatten. Schlange gestanden wurde nach wie vor kultiviert, aber da ging es ja auch ums Bezahlen. Die Blizzardwarnung scheint bei New Yorkern eine Art von Resettaste gedrückt und sie, was das Jagen und Sammeln anbelangt, direkt in die Steinzeit zurückbefördert zu haben. In eine Steinzeit allerdings, in der Fressorgien stattgefunden haben müssen und sich nicht nach Paläodiät ernährt wurde, wie man aus der Menge und Art der gehorteten Lebensmittel schließen kann.
Die warf wirklich Fragen auf, zumindest in meinem Supermarkt. Es war eine Schließung der Schulen für ein, zwei Tage angekündigt worden, aber selbst wenn alle Kinder zu Hause essen: Wann und wie will eine Familie 20 Dosen Thunfisch verdrücken, dazu noch Packen von Toastbrot und schachtelweise Cracker? Warum will plötzlich keiner mehr Grünkohl, Paprika oder Nüsse, auf die ernährungsbewusste „Park Slope Parents“ sonst so viel Wert legen? Sollte der Thunfisch auf die Cracker oder noch extra auf die Tiefkühlpizzen, die sich ebenfalls im Wagen stapelten? (Zum Glück hat man hier Gasherde und -öfen, denen ein Stromausfall nichts anhaben kann.)
Die Rezepte, in denen Thunfisch vorkommt, hätte ich gern einmal gesehen, spontan fällt mir da nur Johannes Mario Simmel mit seinem legendären Agentenroman „Es muss nicht immer Kaviar sein“ ein, aber den kennt hier niemand (die vergriffene englische Übersetzung gibt es gebraucht für 180 Dollar bei Amazon).
Eine herrliche Lektüre fürs Eingeschneitsein am working fireplace, als die New Yorker Makler echte Kamine wegen der vielen Attrappen so gern anpreisen – wenn es denn nur geschneit hätte.
Mir dämmert, dass die ganze Blizzardhysterie der arbeitenden Bevölkerung auch aus der Kombination „wenig Urlaub“ und „Sehnsucht nach Gemütlichkeit“ geboren ist. Auch die Liquor Stores waren wie geplündert, rein vorsorglich, denn im Normalfall kann hier ja keiner trinken, man muss viel zu früh aufstehen. Nach einem Monat in Deutschland, unter dem Eindruck der Dresdner Neonazis und dem Albtraum von Charlie Hebdo, fühle ich mich in New York zum ersten Mal sicherer und aufgehobener als in Europa. Dabei dachte ich zum Zeitpunkt der Abreise nach Deutschland kurz vor Weihnachten, nach dem Ferguson-Urteil, dem ungesühnten Tod Eric Garners, der Erschießung des 12-jährigen Tamir Rice, der Erschießung des unbewaffneten Akai Gurley und anderer Fälle von Polizeigewalt gegen Schwarze, die im Racheakt eines Verrückten ausgerechnet an einem lateinamerikanischen und einem asiatischen Polizisten gipfelte, dies sei jetzt der Tiefpunkt und ich, ich müsse jetzt ganz dringend mal nach Hause. Aber gegen das, was in Europa los ist, kommt selbst New York nicht an. Auch nicht mit dem bisschen Weltuntergangsalarm wegen eines Pseudoblizzards.