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Archiv-Artikel

WEISSRUSSLAND: ZU VIELE WESTKAMERAS, ZU WENIG REALITÄTSSINN Der große Fehler von Minsk

Die Revolution in Weißrussland ist zu Ende, noch bevor sie begonnen hat. Von vornherein war der Protest der überschaubaren Demonstrantenmenge, die einen bemerkenswerten Mut und viel Bürgersinn bewiesen hat, nicht sonderlich aussichtsreich. Doch das rasche Ende der Revolte hat die Opposition gleichwohl mit zu verantworten.

Denn der Aufruf des oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Alexander Kasulin, das Untersuchungsgefängnis zu stürmen und Demonstranten zu befreien, lieferte dem autoritären, aber durchaus verunsicherten Regime eine Steilvorlage. Kasulin handelte unverantwortlich, indem er Opfer bewusst in Kauf nahm. Dass die Machthaber Gewalt mit Gewalt beantworten, wird er gewusst haben. Moralisch hat er sich diskreditiert.

Schwerer wiegen die Konsequenzen für das oppositionelle Lager, das sich im Streit um die Aktion gespalten hat. Die korrupte Führung in Minsk darf sich ob dieser Selbstdemontage die Hände reiben. Fünf Jahre kann sie das Land weiterhin im Würgegriff halten. Die Gegner werden sich von diesem Schlag nicht mehr erholen. Die jetzigen Frontfiguren des Widerstands haben ihre Reputation verloren – auch die Gegner Kasulins, die ihn nicht von seinem Aufruf abgebracht haben. Und neue Leute stehen nicht bereit.

Wieder einmal haben Lukaschenkos Widersacher Realitätsferne bewiesen. Die Dichte westlicher Fernsehkameras und die seltene Einmütigkeit westlicher Diplomaten bestärkten sie in dem Gefühl, den Sieg schon fast in der Tasche zu haben. Aber Revolutionen werden von unzufriedenen Menschen gemacht, nicht von Kamerateams. In Minsk hat deren Präsenz die Aktivisten irregeleitet. Die Fehleinschätzung der Opposition setzte schon damit ein, dass sie die zugunsten des Regimes manipulierten Stimmen sich selbst gutschrieb.

Denn bei den Wählern genießt der Pantokrator trotz allem einen komfortablen Rückhalt. Allein Kremlchef Wladimir Putin könnte dies ändern. Striche Moskau die Energiesubventionen, bräche das weißrussische Wirtschaftswunder zusammen und damit auch der Glaube an die übermenschlichen Kräfte des Schamanen von Minsk.

KLAUS-HELGE DONATH