WAS SIND „TYPISCH DEUTSCHE“ TRADITIONEN? UNTER ANDEREM, NICHT „TYPISCH DEUTSCH“ SEIN ZU WOLLEN : Anleitung zum Deutschsein
MATTHIAS LOHRE
Deutsche sind bekanntlich schizophren. Ein großer Teil von ihnen möchte auf keinen Fall als „typisch deutsch“ angesehen werden, denn damit verbinden sie Spießig- und Humorlosigkeit. Mit bedrückenden Folgen: Sie bereisen die Welt und freuen sich wie gelehrige Schüler, wenn andere glauben, sie seien a) Niederländer, b) Schweizer oder c) irgendeiner anderen Nationalität. Dabei ist diese Sorte Deutscher im Ausland eindeutig erkennbar durch a) ihren aufgesetzten britischen oder amerikanischen Akzent, b) ihr plötzliches Verstummen bei der zufälligen Begegnung mit anderen Deutschen oder c) Vorträge über ihre Enttäuschung über Barack Obama. Ich bin da natürlich ganz anders.
Neulich war ich in einem Café, in dem vor allem ausländische Berlin-Besucher verkehren. Einer hatte ein Buch zurückgelassen: „When in Germany, do as the Germans do“. Ein Ratgeber zum richtigen Verhalten amerikanischer Touristen in Deutschland. Ich wollte mehr erfahren: Sind manche Traditionen zäher als wir glauben? Sind Deutsche konservativer, als ihnen lieb oder bewusst ist?
Das Quiz am Buchanfang ließ mich an Grundsätzlichem zweifeln: „What is the most correct way to attract the attention of a waitress? – a) ‚Fräulein!‘ Auf keinen Fall. b) ‚Frau!‘ Auf gar keinen Fall. ,c) ‚Frau‘ plus her surname.“ Wer kennt schon den Nachnamen der Kellnerin? Antwort d) – gab es nicht. Hatte ich Hunderte Bedienungen beleidigt, fragte ich mich, indem ich Sie angelächelt und „Hallo!“ gerufen hatte? Wie undeutsch ich war! Das Buch begann mir zu gefallen.
Nächste Frage: „What guidebook was the first to use the ‚Baedeker system‘ in 1839? a) Baedeker Rhine, b) Baedeker Paris, c) Baedeker Venice.“ Können Sie die Frage noch mal wiederholen?
Zufrieden lehnte ich mich zurück. Ich war sicher: Weder war ich so typisch deutsch wie jene, die zwei alte Sehnsüchte verbinden – das Aufgehen in der Masse und Fußball – und das Ergebnis mit einem englischsprachigen Begriff belegen, der die „öffentliche Aufbahrung“ eines Leichnams bezeichnet. Noch bin ich so typisch deutsch wie die, die finster entschlossen sind, nicht „typisch deutsch“ zu sein – und Salsa-Kurse bei der VHS belegen.
Dann aber las ich weiter: „Germans tend to be blunt, frank, and – to Anglo-American eyes – tactless in certain situations. They tend to correct you when you don’t want to be corrected.“ Das ist natürlich Unsinn, das sage ich ganz offen. Denn wer so pauschal über Deutsche urteilte, dachte ich, bezog mich ein. Mich!
Donnerstag Margarete Stokowski Luft und Liebe
Freitag Jürn Kruse Fernsehen
Montag Anja Maier Zumutung
Dienstag Deniz Yücel Besser
MittwochMartin ReichertErwachsen
Es wurde noch ärger: „At heart, Germans are pessimists, and they enjoy their pessimism.“ Ich hatte ja die ganze Zeit geahnt, dass das Buch nichts taugt. Auf derselben Seite stand: „Germans have a sense of humour, but it has no resemblance to either the American or British variety.“ Das fand ich überhaupt nicht lustig.
Schließlich war ich so aufgebracht, ich hätte das dämliche Buch am liebsten verbrannt. Oder war das etwa auch eine deutsche Tradition? Nach genauerem Nachdenken zog ich meine Frage zurück. Stattdessen bestellte ich die Rechnung. Fräulein!