WARUM MÄNNER WENIGER FREIGEBIG SIND ALS FRAUEN : Der Mantel des hl. Martin
OPHELIA ABELER
Die Amerikaner sind, so muss man ehrlich sagen, ganz schön laut. Sie unterhalten sich so laut miteinander, dass es schwerfällt, sich daneben sitzend auf die Zeitung zu konzentrieren, und ins Telefon brüllen sie vorsichtshalber gleich. Auf der Straße, im Park oder auch beim Einkaufen schreien sie in ihre Freisprecheinrichtung, und zwar das privateste Zeug („Ich bin gerade bei der Pediküre! Ich habe da diesen eingewachsenen Nagel! Schmerzt unerträglich!“ oder „Treib endlich die verfickte Kohle auf, du hast mir die Michael-Kors-Tasche versprochen! Respektiere mich, und Gott wird dich segnen!“ oder „Zu hohe Performance! Ich kaufe erst bei 8,24!“)
Das wirkt irre, und vom Verhalten her kann man manchmal einen am Telefon verhandelnden Banker kaum von einem verwirrten Obdachlosen unterscheiden, nur schimpft dieser mit sich und der Welt und läuft jederzeit Gefahr, von der Polizei einkassiert zu werden, während das Herumbrüllen des Bankers harte Arbeit suggeriert. Der Banker kann auch seine Mittagspause unbehelligt zum Nickerchen auf der Parkbank nutzen, während immer mehr Städte als Maßnahme gegen die Obdachlosen Verordnungen wie „Kein Schlafen in der Öffentlichkeit zur Geschäftszeit“ erlassen.
Selbstverständlich gelten diese Maßnahmen nicht offiziell den Obdachlosen, und es laufen viele Klagen von Obdachlosen und ihren Verbänden gegen sie, für das Recht auf Bewegungsfreiheit, auf Schlaf, auf Grundrechte eben. Und natürlich würde niemand auf die Idee kommen, einen Mann im Anzug aufzuwecken und von einer Parkbank zu vertreiben.
In New York kann es allerdings demnächst jedem passieren, dass er sich draußen einfach nirgendwo mehr hinsetzen kann, weil die Bänke in den Parks abmontiert werden. Bürgermeister de Blasio hatte in seinem Wahlkampf als eines der wichtigsten Ziele formuliert, die Obdachlosigkeit in New York zu bekämpfen, aber zurzeit ist sie leider auf einem Rekordhoch. Fast 60.000 Menschen in New York haben kein Zuhause. Das Entfernen der Bänke, das von Anwohnern eines von Wohnungslosen okkupierten Parks vorgeschlagen wurde (und von ihnen selbst als letzter Ausweg und Schuss ins eigene Knie gesehen wird), soll die Leute dazu bewegen, ins Shelter zu gehen.
Überhaupt läuft in diesem Jahr einiges nicht so gut. Am Montag hat der Coat Drive begonnen. Die größte Spendenaktion für Wintermäntel, bei der jedes Jahr etwa 100.000 Mäntel zusammenkommen, verzeichnet dieses Jahr einen Einbruch – entweder denken die Leute nicht daran, Mäntel abzugeben, solange es nicht richtig kalt ist, oder es macht sich bemerkbar, dass die Metropolitan Transportation Authority in diesem Jahr keinen Platz für Plakate hatte. Letztes Jahr ging es richtig los, nachdem der Schauspieler Kevin Bacon getwittert hatte: „Gerade vier Mäntel abgegeben!“ Er wird von den Organisatoren von New York Cares als ihr Coat Drive Hero bezeichnet.
Die Amerikaner lieben es, Menschen zu Helden zu erklären, die vielleicht einfach nur artgemäß gehandelt haben. Neuerdings wird Sankt Martin populär, und das ganz ohne Laternenlobby. Beim Umzug im Prospect Park sieht man vorwiegend selbst gebastelte Laternen, obwohl es in den USA praktisch kein Transparentpapier zu kaufen gibt. Es gibt einen Sankt-Martin-Darsteller auf einem Pferd, mit riesigem rotem Mantel, und einen Bettlerdarsteller.
Sankt Martin ist, anders als der im Sankt-Martins-Lied als still Besungene, mal wieder sehr, sehr laut. Er schreit den Bettler an, es klingt fast wie eine Drohung: „Soll ich dir meinen Mantel geben?“ Der Bettler liegt auf dem Boden und wimmert: „Ja …“ Als Sankt Martin den Mantel, dessen Klettverschluss nur so kracht, in zwei Hälften teilt, jubeln die Kinder. Man hört die Mütter, wie sie ihnen erklären, wie wichtig es ist, zu teilen, den Armen zu geben. Man kann sie akustisch wirklich sehr gut verstehen, denn keiner kennt das Lied, das die kleine Kapelle intoniert, und sie sprechen locker lauter als die paar Posaunen und Trompeten.
Als Mütter, die in ständiger Sorge um ihre Kinder sind, wollen sie aber trotzdem lieber, dass die Wohnungslosen doch bitte anderswo schlafen als in ihrem Park. Eine erzählt, beim Coat Drive fehle es vor allem an Mänteln für Männer in großen Größen. Eine andere meint, klar, es gibt ja auch mehr obdachlose Männer als Frauen. Die erste entgegnet: „Vor allem haben wir Frauen aber mehr Klamotten und spenden auch lieber, damit wir uns ohne schlechtes Gewissen was Neues kaufen können.“
■ Ophelia Abeler ist Kulturkorrespondentin der taz in New York