■ Vorschlag: Arbeit am Lebensgefühl: Ein litauischer Rockstar spielt „Hamlet“
Es gibt wenig Licht, viel Eis und hin und wieder Feuer. Männer tragen Strickpullis, sind wütend und heulen wie die Wölfe. Lange und heftig wird off stage in ein Mikrofon geatmet, während on stage die Nebel wallen. Ja, so stellt man sich den wilden Norden vor, winters, wenn die Depressionen kommen. Ursuppig kalt und naß und voll von böser Leere. „Hamlet“ auf litauisch ist seit gestern im Hebbel-Theater zu sehen, und „Hamlet“ auf litauisch bleibt auch mit deutschen Obertiteln ein nicht leicht verständliches Ereignis. Hysterische Exaltationen wechseln mit ruhigen Sequenzen, Menschen rufen, statt zu sprechen, setzen in großen Sprüngen über die Bühne, rempeln sich an und küssen sich zu Glockenklang dann doch wieder Hände und Füße. Inszeniert hat der 46jährige Regisseur Eimuntas Nekrosius, ein Mann, der nicht nur der einzige litauische Theaterkünstler ist, den man im Westen so kennt, sondern der auch im eigenen Lande als der beste gilt. Eine deutsch-italienisch-litauisch-schweizerische Koproduktion ist dieser „Hamlet“, die Deutschlandpremiere war im Juli in Braunschweig.
Gemessen am Vernetzungsgrad, erstaunt diese Arbeit mit einer fast ratlos offenen Ästhetik, die mal rebellisch wirkt, dann wieder wie gelähmt. Den Hamlet spielt ein pummeliger Blonder mit Ananasfrisur: der litauische Rockstar Andrius Mamontovas. Schauspielerisch kein Genie, hat er aber das Charisma eines melancholischen Egozentrikers, das zur Rolle ausgezeichnet paßt. Dann wieder läßt er ein dumpf-kehliges Grollen hören, das im wirklichen Leben junge Litauerinnen in Zustände versetzen mag, auf einer deutschen Bühne aber merkwürdig formlos im Raume hängt.
Eis ist die Metapher dieser Arbeit. In einem Eisblock überreicht der Geist von Hamlets Vater dem Sohn ein Messer. Später steht Hamlet im papiernen Hemd unter einem Leuchter mit Eiskugeln, wenn er den Text über Sein und Nichtsein spricht. Vergangene und zukünftige, vielleicht aber auch gar keine Hoffnung. Hamlet als Mamakind mit herabgelassenen Hosen, riesige Kelche mit goldener Flüssigkeit, herzzerreißender Gesang, und Schauspieler flattern wie die Raben. Ein atmosphärisches Irgendwie drückt diese Inszenierung aus, das so etwas sein mag wie ein baltisches Lebensgefühl. Früher habe er gedacht, nach dem Kommunismus käme die Freiheit, sagte Nekrosius einmal dem Magazin Theaterschrift. Heute rauche er immerhin Camel. Petra Kohse
Heute, 9.-11., 13.-16.10., 20 Uhr, Hebbel-Theater, Stresemannstr. 29
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