■ Vorlesungskritik: Bielefeld findet in Berlin statt
Bielefeld gilt gemeinhin als eine der langweiligsten Großstädte Deutschlands. Gewöhnliche Bundesbürger verbinden mit ihrem Namen allenfalls Puddingpulver oder Backmischungen aus dem Hause Dr. Oetker, das zu Füßen den Teutoburger Walds nicht nur die Ökonomie, sondern auch die lokale Politik fest in den Händen hält.
Für Historiker dagegen ist Bielefeld eine ganz besondere Stadt. Je nachdem, welcher wissenschaftlichen Schule sie angehören, gilt sie ihnen als himmlisches Jerusalem oder als Sitz des Antichristen. In diesem Sinn sehen sie Bielefeld nicht als real existierende Metropole Ostwestfalens, sondern als geistigen Ort. Es ist also keinesfalls ein Widerspruch in sich, wenn ein von dort an die Humboldt-Universität gewechselter Historiker gern behauptet, „Bielefeld findet in Berlin statt.“
Am Mittwoch abend war in Berlin sogar mehr Bielefeld als üblich, und es war physisch greifbar in der Gestalt von Reinhart Koselleck, der seit 1974 als Gründungsdekan die dortige geschichtswissenschaftliche Fakultät auf den damals innovativen strukturgeschichtlichen Ansatz festlegte. Daraus entwickelte eine jüngere Generation um Hans-Ulrich Wehler und den jetzt an der FU lehrenden Jürgen Kocka die in ihren Augen noch innovativere „historische Sozialwissenschaft“. Seit 1990 ist deren Fortschrittsgewißheit freilich dahin, seither reden ihre Vertreter auffallend häufig davon, die Sozialgeschichte bedürfe einer „kulturgeschichtlichen Erweiterung“.
Vor diesem Hintergrund sieht der 73jährige Koselleck mit seiner „Begriffsgeschichte“ überhaupt nicht alt aus. Um das Verhältnis von Sprache und Geschichte ging es auch in der ersten seiner Vorlesungen als Georg- Simmel-Gastprofessor. „Nicht die Taten sind es, die den Menschen erschüttern, sondern die Worte, die über diese Taten gesprochen werden“, zitierte er Epiktet. So hätten Marx und Engels statt des verlangten Glaubensbekenntnisses für den Bund der Kommunisten das „Manifest der Kommunistischen Partei“ geschrieben. „So wird Geschichte gemacht“, hob Koselleck hervor, durch begriffliche Innovation und „Abstoßung der vorangegangenen Begriffe“.
Die zweite Hälfte der Vorlesung widmete Koselleck der Entwicklung des „Kollektivsingulars“ Geschichte im 18. Jahrhundert. Zuvor waren die „Geschichte“ nur als Mehrzahl von „die Geschicht“ oder „das Geschichte“ denkbar. Doch die Vielzahl von Einzelgeschichten verschmolz in jener Zeit zur Weltgeschichte, in der sich „die Bedingungen der eigenen Erfahrung dieser Erfahrung entziehen“. Auch wenn Friedrich der Große französisch dachte und der neuen Begriffsbildung daher verständnislos gegenüberstand, war doch der von ihm geführte Siebenjährige Krieg als erster Weltkrieg Ausdruck genau dieser Entwicklung. Immerhin hätten sich die Russen durch eine größere Geldsumme zum Abzug aus Berlin bereitgefunden, „ein Vorgang, der sich ja jüngst wiederholt hat“.
Da ist wieder Kosellecks respekt- und tabuloser, bisweilen ein wenig polternder Humor, der im Verein mit den überraschenden Wendungen seines Denkens die Lektüre seiner Aufsätze nie langweilig macht. Öffentliches Aufsehen erregte er damit, als er – wissenschaftlich auch in Fragen des nationalen Opferkults ausgewiesen – voriges Jahr gegen das Lieblingskind des Bundeskanzlers, die Neue Wache, polemisierte. Durchsetzen konnte er sich damit nicht. Berlin ist eben doch nicht Bielefeld. Ralph Bollmann
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