: Vorbild für eine andere Welt
„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“, hat Alt-Bundeskanzler Schmidt gesagt. „Wer Visionen hat, soll nach Stuttgart kommen“, sagt Hannes Rockenbauch. Der Stuttgart-21-Gegner würde die Landeshauptstadt gerne zu einem Demokratielabor machen
Ein Interview von Hermann G. Abmayr
Herr Rockenbauch, in Bayern hätten sich die Gegner von Stuttgart 21 möglicherweise längst durchgesetzt. Siehe Olympia-Bewerbung!
Die Abstimmungen über Olympia haben in den betroffenen Städten und Kreisen stattgefunden, nicht im gesamten Bundesland wie bei uns, als es um S 21 ging. Wir haben 2007 in Stuttgart 67.000 Unterschriften für eine Abstimmung über die Zukunft unseres Bahnhofs gesammelt. Doch wir, die unmittelbar betroffenen Stuttgarterinnen und Stuttgarter, durften nicht. Bei der direkten Demokratie ist uns Bayern jedenfalls weit überlegen.
Inzwischen fordern die CSU und SPD sogar bundesweite Volksabstimmungen. Auch ein Erfolg der Stuttgarter Bürgerbewegung?
Es freut mich, dass die Spielregeln für direkte Demokratie inzwischen überall diskutiert werden. Doch formale Abstimmungen reichen nicht. Wir müssen Prozesse gestalten, um gemeinsam getragene Entscheidungen zustande zu bekommen. Da kann die Abstimmung der letzte Schritt sein, aber davor gibt es viel Arbeit zwischen den Bürgerinnen und Bürgern, den Planern, Politikern und Experten, die sich an einen Tisch setzen müssen. Wird alles nur im stillen Kämmerchen entwickelt und am Ende alternativlos oder über zwei Alternativen abgestimmt, würden wir die Kreativität und Kompetenz der Bürger nicht mit einbeziehen.
Im Koalitionsvertrag verspricht Grün-Rot, Baden-Württemberg zu einem Musterland der Bürgerbeteiligung zu machen.
Schade, dass ihnen bisher trotz Mehrheit der Mut dazu fehlt. Ich hätte zum Beispiel bei der Herabsetzung der Quoren wesentlich mehr erwartet. Wozu brauchen wir überhaupt Quoren, die Abstimmungen zunichtemachen, wenn sich nicht eine vergleichsweise sehr hohe Zahl an Bürgern beteiligen? Die Schweiz kommt ohne Quoren aus. Und bei Gemeinderats- oder Parlamentswahlen gibt es diese Hürde auch nicht. Wir haben Kommunalwahlen, an denen sich weit weniger als die Hälfte der potenziellen Wähler beteiligen. So wurde der OB der Großen Kreisstadt Waiblingen Mitte Dezember von gerade einmal 18 Prozent der Wahlberechtigten im Amt bestätigt. Und hinterher beschließen diese Leute Bauleitpläne. Spannend wäre gerade eine Änderung der Spielregeln in der Kommunalpolitik. Die Menschen bei der Bauleitplanung im Vorfeld zu beteiligen, wie es jetzt geplant ist, ist ein erster Schritt; aber warum überlässt man die Entscheidung am Ende beim konkreten Bebauungsplan weiterhin dem Gemeinderat?
Aber wollen sich die Leute überhaupt beteiligen?
Zuerst geht es darum, dass sie sich beteiligen können, wenn sie es wollen. Und wenn jemand mitmacht, dann will er ernst genommen werden, will, dass es nicht auf eine Alibi-Geschichte hinausläuft, dass es Alternativen gibt und das Ergebnis offen ist. Schließlich muss man sich bei diesem Engagement viel Zeit nehmen. Bei Stuttgart 21 hatten wir das Problem, dass die Alternativen nicht geprüft wurden: Also wollen wir mit dem Bahnhof oben bleiben, oder gehen wir unter die Erde?
Man hätte auch über drei Varianten abstimmen können, oberirdischer Kopfbahnhof, Tunnelbahnhof oder eine Kombi-Lösung.
Zum Beispiel. Dann wäre es nicht zu dieser Polarisierung gekommen. Es gibt noch ein weiteres Problem. Planungen oder Rahmenbedingungen ändern sich immer wieder. Wussten die Bürger 1994, dass ein unterirdischer Bahnhof so teuer wird? Dass man, wenn überhaupt, am Schluss nur acht Gleise hat, aber zehn bräuchte, um den Verkehr halbwegs sinnvoll abzuwickeln? Ich fordere deshalb eine provisorische Politik. In einer Beteiligungsgesellschaft muss man dazulernen dürfen. Wir müssen Überprüfungsschritte einbauen, um neue Erkenntnisse berücksichtigen zu können. So hatte die Diskussion um den Klimawandel und deren Ursachen Anfang der 90er-Jahre noch keine so große Bedeutung wie heute. Einmal gefällte Entscheidungen dürfen nach herrschender Auffassung nicht in Frage gestellt werden. Erst recht nach einer Volksabstimmung. Der Planungs- und Entscheidungsprozess muss aber offen sein. Sonst werden wichtige Entwicklungen verbaut.
Was hätte das für Stuttgart 21 bedeutet?
Man hätte die Bürger in Baden-Württemberg fragen müssen, welchen Bahnverkehr wollen wir landesweit, und die in Stuttgart, welche Stadtentwicklung wollen wir hier. Wollen wir Prestige oder wollen wir das Netz überall ausbauen? Doch jetzt wird die S-21-Volksabstimmung vom November 2011 als Legitimation für das Ende einer Debatte missbraucht. Dabei wurden damals wichtige Fakten verschwiegen. Und es haben Leute abgestimmt, die von den Folgen des Projekts nicht betroffen sind. Ein milliardenschwerer Konzern, die Deutsche Bahn, und deren Unterstützer haben versucht, die Menschen mit einer groß angelegten Kampagne zu manipulieren. Obwohl die Bahn inzwischen ihre Lügen zugeben musste, soll die Abstimmung weiter gültig sein. Das darf nicht sein!
Trotzdem waren Sie für die Teilnahme an der Volksabstimmung.
Ich habe gehofft, eine politische Auseinandersetzung führen zu können. Das ist uns nicht gelungen. Schon weil uns die Infrastruktur gefehlt hat, unsere Themen qualifiziert bis ins letzte Dorf zu bringen. Als das Ergebnis damals bekannt wurde, war ich ziemlich fertig. Als ich dann aber im Landtag gesehen habe, wie die CDU-Leute krakeelt haben, manche auf Bänken und Tischen tanzten, wie sie Boris Palmer von den Grünen verhöhnt und ihre Haltung verloren haben, habe ich begriffen, dass es bei der Abstimmung nicht darum ging, ob Stuttgart 21 ein sinnvolles Projekt ist. Die S-21-Befürworter wollten vor allem den begonnenen politisch-kulturellen Wandel stoppen, sie wollten ihn mit einem Verfahren einfangen, das Volksabstimmung heißt. Leider haben sich die Grünen und die SPD darauf eingelassen, denn auch sie wollten das Thema von der Tagesordnung nehmen. Es ging ihnen nur um die Macht. Ministerpräsident Kretschmann hat alles vergessen, was er unserer Bürgerbewegung zu verdanken hat. Das war bitter für mich. Diese Erfahrung hat mich gelehrt, das Demokratie kein bloßes Abstimmungshopping sein darf.
Und wie geht es weiter mit dem Protest gegen Stuttgart 21? Jetzt stellen einige sogar die Montagsdemo in Frage.
Die von Kontext in Auftrag gegebenen Emnid-Befragung vor einem halben Jahr und die jüngste Untersuchung der Stadt Stuttgart zeigen, dass die Mehrheit der Baden-Württemberger und der Stuttgarter längst nicht mehr hinter S 21 steht. Doch die Massenbegeisterung für weitere Proteste hat stark nachgelassen. Große Mobilisierungszeiten kann man eben nicht dauerhaft halten. Weil das Zurück-nach-Hause, an die eigenen existenziellen Probleme übermächtig ist. Aber die Montagsdemo ist eine absolut notwendige Institution geworden. Ich hatte anfangs gesagt, ich möchte mal, dass wir so viele Leute sind, wie in ein Fußballstadion passen. Und dann war das plötzlich so, weil es eine Alles-ist-möglich-Gefühl gab, aber auch die Haltung, alles ist gut, alles ist ein Beitrag im Widerstand, alles außer Gewalt ist erlaubt. Die Leute haben in ihrer Vielfalt zum Protest beitragen können. Und das soll so bleiben. Diejenigen, die meinen, sie hätten den einzig richtigen Weg gefunden, beschäftigen sich zu sehr mit sich selbst.
Haben Sie Fehler gemacht?
Ich frage mich immer wieder, ob wir die Chancen, die Fenster, die wir hatten, optimal genutzt haben. Doch ich will nicht kleinreden, was wir erreicht haben. Nach knapp 60 Jahren keine CDU mehr in der Landesregierung, ein grüner Oberbürgermeister in Stuttgart, eine Gemeinderatsmehrheit gegen den schwarzen Block und eine bundesweite Diskussion über Demokratie. Das sind Veränderungen, die hätte es ohne die Bürgerbewegung gegen S 21 nicht gegeben.
War die Fokussierung auf den Tunnelbahnhof zu einseitig?
Wir hätten eine eigene inhaltliche Basis erarbeiten müssen, bei der es um mehr geht als Bahnhof, mehr als Bahntechnik, mehr als die vielen Einzelaspekte, die mit dem Bahnhof verbunden sind. Das war immer mein Ziel. Ansätze dazu gab es. So haben wir mit viel Bürgerprotest den Abriss der ehemaligen Gestapo-Zentrale Hotel Silber verhindert, wo jetzt ein Lern- und Gedenkort entstehen soll. Allerdings ohne die Chefetage des braunen Terrors, wie es die Bürgerinitiativen und das Haus der Geschichte Baden-Württembergs vorgeschlagen hatten. Der bürgerliche Block und die Grünen haben dies im Gemeinderat kurz vor Weihnachten verhindert. Wir hätten aber auch über viele andere Themen reden müssen, über eine alternative Stadt, über eine Gesamtvision, die mehr ist als ein modernisierter oberirdischer Bahnhof. Nur in diesem Punkt gelang eine Vision, weil wir Experten hatten, denen wir vertrauen konnten. Es gab Einzelgruppen, Ingenieure, Architekten, Juristen, Verkehrsplaner. Wir haben Leute aus Sozialbewegungen, Arbeitslose, Demokratie-Leute und so weiter, die alle ihr Wissen einbringen. Daraus könnten wir ein Demokratielabor machen. Das begeistert mich immer noch an Stuttgart und dieser Bürgerbewegung. Da ist ein enormes Potenzial da. Wir könnten Vorbild sein für eine andere Welt, die möglich ist. Die Erfahrung der vergangenen Jahre schlummert ja in den Leuten noch. Stuttgart ist für mich ein Paradies der politischen Möglichkeiten. Wer Visionen hat, soll nach Stuttgart kommen. Deswegen mache ich auch weiter Kommunalpolitik.
■ Hannes Rockenbauch (33) kämpft seit den 90er-Jahren gegen Stuttgart 21 und war zeitweise Sprecher des Aktionsbündnisses gegen S 21. Nicht nur wegen seiner roten Haare wurde er mit dem Studentenrebellen Daniel Cohn-Bendit verglichen. Rockenbauch ist seit 2004 Gemeinderat des parteifreien Bündnisses SÖS (Stuttgart Ökologisch Sozial) und Sprecher der Fraktionsgemeinschaft SÖS/Die Linke. Bei der OB-Wahl 2012 hat er im ersten Wahlgang 10,4 Prozent der Stimmen gewonnen. Der Ingenieur mit Fachrichtung Architektur schreibt gerade eine Doktorarbeit über „provisorische Politik“ und eine neue Beteiligungskultur.