■ Vor einer Zeitenwende in der westlichen Außenpolitik: Rußland bleibt draußen
Manche Entwicklungen erschließen sich erst in der Rückschau zu einem deutlichen Bild. Aus dem Blickwinkel der Tagespolitik scheinen die Atombombenversuche im Südpazifik, der Krieg in Jugoslawien, der beginnende amerikanische Präsidentschaftswahlkampf und der Machtkampf in Moskau nichts miteinander zu tun zu haben. Aber in ein paar Jahren wird man die Entwicklungen der letzten beiden Wochen vielleicht als entscheidende Weichenstellung für Europa ansehen.
Das beginnt mit dem Krieg in Jugoslawien. Der sukzessiv eskalierte Einsatz der Nato in Bosnien folgt einer Logik, die nicht nur durch das Kriegsgeschehen diktiert ist: Die gleichzeitige diplomatische und militärische Offensive der USA hat vor allem das Ziel, den Krieg in Bosnien bis zum eigentlichen Wahlkampfbeginn im kommenden Jahr zu beenden, oder aber zumindest soweit einzudämmen und zu regionalisieren, daß er für den US-Wahlkampf keinen Stoff mehr bietet. Aus diesem Grund hat es Clinton in Kauf genommen, die Russen derart vor den Kopf zu stoßen, daß Jelzin sich zu Verbalattacken genötigt sah, die der Rhetorik des Kalten Krieges kaum noch nachstehen. In dieser Situation testet Frankreich im Südpazifik für den Bau einer handlichen, kriegsführungstauglichen Atomwaffe und bietet der Bundesregierung indirekt die Teilhabe an der Force de frappe an.
Dieses Angebot findet der deutsche Außenminister „interessant“, und ein Teil der Regierungspartei äußert sich offen positiv. Während französische Spitzenpolitiker, inklusive Chirac, schon fast wieder so ungeniert wie vor 1989 zur Begründung ihrer Atomwaffen auf die Entwicklung in Rußland verweisen, redet man in Bonn von abstrakten Optionen. Ein Minimum an Abschreckungskapazität sei eine historische Notwendigkeit, gegen wen auch immer. Die Rolle der Atomwaffen würde leider, leider wieder wichtiger, da könne eine zweite Rückversicherung nicht schaden. Letztlich glaubt man auch im Bonner Regierungslager, daß weder die Entwicklung in Moskau geklärt ist, noch langfristig sicher ist, daß die Nukleargarantie der USA bestehen bleibt. Auch in der deutschen Politik gibt es genug „Gaullisten“, die für den Fall der Fälle vorsorgen wollen.
Noch vor fünf Jahren wäre ein entsprechender Vorstoß aus Paris in der Bundesrepublik allgemein als absurd oder aber als verdeckter Angriff auf den Zusammenhalt der Nato interpretiert worden. Jetzt herrscht die „neue Nachdenklichkeit“. Klar ist zur Zeit nur eins: Von Abrüstung redet niemand mehr. Das gegen Geist und Buchstaben des KSZE-Abkommens über konventionelle Abrüstung in Europa allenthalben verstoßen wird, wird kaum zur Kenntnis genommen, und statt über die Verschrottung von Atomwaffen zu verhandeln, entwertet Frankreichs Präsident Chirac den gerade erst verlängerten Atomwaffensperrvertrag zu einem Papier, das ihn nichts angeht.
Nahezu unmerklich, fast unter der Hand, scheint die zentrale Frage der europäischen Sicherheitspolitik der letzten fünf Jahre entschieden worden zu sein. Bei den gebotenen Alternativen einer neuen Architektur für Europa – „mit Rußland“, „ohne Rußland“ oder „gegen Rußland“ – hat sich an den Schaltstellen westlicher Macht, sei es in den USA, der Nato oder Westeuropa, offenbar die „ohne Rußland“-Fraktion durchgesetzt. Die Debatte um kollektive Sicherheit in einem gemeinsamen europäischen Verbund wird zur Zeit nur noch in einigen OSZE- Expertenrunden diskutiert. Die große Politik setzt auf die Nato-Erweiterung nach Osten, schon um zu demonstrieren, daß Rußland kein Vetorecht gegen die Entscheidungen der westlichen Militärallianz zukommt. Dazu paßt das Vorgehen in Bosnien. Die Militäreinsätze der Nato werden immer mehr von der UNO abgekoppelt und mehr und mehr in Richtung Golfkriegs-Variante verändert. Selbst wenn dies formal korrekt geschieht: In der Sache wurde Rußland ausmanöveriert, scheint die Zeit der Rücksichtnahme vorbei.
Man muß der Bundesregierung zugute halten, daß sie sich lange für die Zusammenarbeit mit Rußland stark gemacht hat und ihr die jetzige Richtung nicht unbedingt in den Kram paßt. Erst jüngst hat Außenminister Klaus Kinkel gegenüber der FAZ noch einmal nachdrücklich auf die deutschen Verdienste bei der Integration Moskaus hingewiesen. Angefangen bei der Einbeziehung Rußlands in den Kreis der G 7, über Deutschlands Drängen auf ein Kooperationsabkommen zwischen EU und Moskau bis hin zum Dialog Rußlands mit der Nato, den Bonn besonders fördere. Was sich erst so gut anhört, ist aber auch nur die halbe Wahrheit. Bundesverteidigungsminister Rühe gehört zu den herausragenden Protagonisten der Parole „Nato goes east“, und auch Kanzler Kohl ist vor dem entscheidenden Schritt einer institutionellen Verankerung Rußlands in Europa immer zurückgeschreckt. Statt dessen „Männerfreundschaft“ als Politik-Ersatz.
Nach dem Schulterklopfen war jetzt verbaler Schlagabtausch angesagt. Statt achselzuckend darauf zu verweisen, daß die Moskauer Empörung doch rein innenpolitisch motiviert sei – Clintons Engagement in Bosnien ist auch innenpolitisch motiviert – sollten die westlichen Strategen sich lieber eingestehen, daß daraus ein Selbstläufer werden kann, der im schlimmsten Fall in der militärischen Konfrontation endet. Entweder die USA und die Westeuropäer versuchen jetzt ernsthaft, Rußland mit ins Boot zu bekommen, oder sie laufen Gefahr, Jelzin tatsächlich an die Seite der Serben zu bomben. Um die Russen mit ins Boot zu bekommen, ist aber wohl mehr vonnöten als eine neue Sitzung der Kontaktgruppe oder ein Abstecher des stellvertretenden US-Außenministers nach Moskau. Der Westen muß jetzt einen Vorschlag machen, wie Nato und Rußland zukünftig so kooperieren können, daß die Interessen beider Seiten gewahrt bleiben. Das kann durchaus ein bilateraler Vertrag zwischen Nato und Rußland sein. Aber dieser Vertrag muß substantiell über das bisherige „peace and friendship“-Programm hinausgehen. Wechselseitige Einspruchsrechte müßten selbstverständlich eingeschlossen werden.
Aber vielleicht ist diese Option längst verworfen worden. Vielleicht sind die früheren Pläne Clintons, Rußland nach den Präsidentschaftswahlen in beiden Ländern in die politische Zusammenarbeit der Nato zu integrieren, endgültig ad acta gelegt und eine mögliche Konfrontation wird jetzt billigend in Kauf genommen. Dann würde auch das Gerede von der atomaren Absicherung wieder einen ganz anderen Sinn bekommen, und selbst eine deutsch-französische Atomkooperation hätte dann eine andere Perspektive als vor vierzig Jahren. Jürgen Gottschlich
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