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■ Vor einer Neuorientierung der IG-Metall-Strategie?Betrieb für Betrieb

Notfalls werde man die eigentlich zum 1. April fällige Lohnerhöhung auch durch einen Arbeitskampf Betrieb für Betrieb erkämpfen, kündigte der Vorstand der Industriegewerkschaft Metall in einer Erklärung nach seiner Klausurtagung an. Und dann folgt ein Satz, der aufhorchen läßt: man solle sich nicht auf die „ordnungspolitische Norm“ des Flächentarifvertrags versteifen, wenn diese vom Arbeitgeberverband beharrlich verweigert wird. Deutet sich in dieser Formulierung eine neue Beweglichkeit der Gewerkschaft an, die mit bisher ehernen Grundsätzen bricht?

Zunächst einmal vollzieht die Gewerkschaft nach, was die Arbeitgeber vorgelegt haben. Wenn die eine Tarifpartei aus dem Tarifgefüge aussteigt, fehlt der anderen das Gegenüber, das man zu vertraglichen Regelungen braucht. Aber so, wie es formuliert ist, zielt das Statement auf Grundsätzlicheres: die Gewerkschaft gesteht damit zu, daß die betrieblichen Bedingungen in Ostdeutschland so unterschiedlich sein können, daß es nicht mehr sinnvoll ist, für sie flächendeckende Regelungen zu treffen. Der neu errichtete Zweigbetrieb eines westdeutschen Großkonzerns mit Spitzenproduktivität kann natürlich schon heute Westlöhne zahlen, während der im mühseligen Umstrukturierungsprozeß befindliche Treuhandbetrieb sich mit der im Tarifvertrag vorgesehenen Lohnstufe schwer tut. Für die Gewerkschaft würde der Verzicht auf den Flächentarifvertrag eine grundlegende Veränderung, eine „Verbetrieblichung“ gewerkschaftlicher Arbeit zur Folge haben. Offenbar fühlt sie sich stark genug, diesen für sie risikoreichen Veränderungsprozeß anzugehen. Denn einerseits könnte sie in starken, hochorganisierten Bereichen mehr Stärke entwickeln. Andererseits droht in schwach organisierten Betrieben ein Verlust an Durchsetzungsfähigkeit, der leicht in eine gewerkschaftspolitische Abwärtsspirale münden kann. Ein weiteres Auseinanderklaffen der Lebensbedingungen der abhängig beschäftigten Menschen wäre die Folge. Und eine verschärfte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, die sich gewerkschaftlicher Solidarität entgegenstellt.

Auf der anderen Seite wäre die Gewerkschaft viel mehr als früher in der Lage, betriebliche Sonderbedingungen in ihrer Politik zu berücksichtigen. Und in jedem Fall müßte sie sehr viel basisnäher agieren als bisher, um Durchsetzungs- und Konfliktfähigkeit zu entwickeln. Sie müßte bürokratische Vereinheitlichungsmechanismen ersetzen durch überbetriebliche Netzwerke. Wenn der gegenwärtige Arbeitskampf eine solche Entwicklung anstößt, könnte darin auch eine Chance für mehr Demokratie in den Gewerkschaften liegen – und nicht nur dort. Martin Kempe

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