Von der Kläglichkeit des Seins

■ In Stralsund feierte am Samstag der „Wildschütz“ von Lortzing Premiere

Nett erscheint die Szene nur auf den ersten Blick: Polterabendfeier auf dem Dorfplatz. Es wird getanzt, gejohlt, gesoffen, geschäkert und gerülpst — und der alte Schulmeister kann auch in seiner Rolle als Bräutigam nicht davon ablassen, das ABC zu lehren und den jungen Leute auf die Finger zu klopfen.

Von Annette Jensen

Herr Bakulus soll leben, denn er hat dies Fest uns gegeben!“, singen sie; nicht um seiner selbst willen wünschen die Dorfbewohner dem Lehrer Glück und Segen, sondern weil er die Zeche des Abends bezahlt hat. Und schon nach ein paar Takten macht die Inszenierung deutlich, daß das traute Eheglück von Bakulus und Gretchen schon vor dem Gang zum Altar zum Scheitern verurteilt ist. Die dralle Braut, keck gespielt von Martina Ehlert, hätte zwar viel mehr Lust auf einen jungen und möglichst reichen Kerl; aber ein „alter Mann ist doch besser als gar keiner“. Resigniert erkennt sie, daß sie eh einmal „Hausfrau“ werden müsse und verordnet sich Zufriedenheit mit der Aussicht, als Schulmeistersfrau immerhin eine Position und gesichertes Auskommen zu haben.

Doch mit der Aussicht auf materielle Absicherung scheint bereits am selben Abend Schluß zu sein, denn beim Versuch, den Hochzeitsbraten im Wildgehege des Grafen zu schießen, ist der tölpelige Bräutigam erwischt worden und soll nun seinen Hut als Schulmeister nehmen. Der gelegentlich als Persiflage auf Goethes Faust erscheinende Lehrer, sehr schön dargestellt von Günter Schreiber, überlegt kurzfristig, Gretchen zur Abbitte aufs Schloß zu schicken, weil der Graf bekanntermaßen auf junge und schöne Mädchen steht. Aber Gretchens kokettes Interesse an der Mission macht ihn mißtrauisch. Zufällig kommen gerade die Baronin und ihr Zimmermädchen in Männerkleidern daher, die auf heimlicher Bräutigamschau in Richtung Schloß unterwegs sind.

Eine Verwechslungskomödie beginnt, bei der die Morbidität der bürgerlichen und adeligen Gesellschaft deutlich wird. Die hehren Maximen, die die beiden Stände vormals für sich in Anspruch nahmen, werden durch das klägliche Scheitern ihrer Repräsentanten in der Oper der Lächerlichkeit preisgegeben. Niemand vertraut auf seine Gefühle, niemand zieht Konsequenzen aus den eigenen Erfahrungen. Die biedermeierliche Gesellschaft behauptet, in beschaulichen Nischen die alten Werte und Ordnungen zu bewahren, die durch die materiellen Gegebenheiten längst nur noch leere Hüllen sind. Das bürgerliche Eheglück ist zur pragmatischen Versorgungsinstitution für Gretchen geworden und Bakulus avanciert nach eigenen Worten vom Christen zum Kapitalisten, als ihm der Baron 5.000 Taler für seine Braut anbietet und er einschlägt.

Auch auf dem Schloß werden die klassischen Vorgänger zu Karikaturen. Der verwitwete Baron, gespielt und gesungen von Michael Auenmüller, gibt sich noch kurz der pathetischen Trauer um seine Exgattin hin, bevor er mit ebensolcher narzistischer Inbrunst vor jeder Frau auf die Knie fällt und ihr mit großer Geste seine Liebe schwört. Nicht nur bei der Figur des Barons werden männliche Eitelkeiten und Chauvinismus in der Stralsunder Inszenierung bissig und detailgenau unter die Lupe genommen.

Die einzige Person, die in gewisser Weise authentisch wirkt, ist ein weiblicher Don Quichote: die Gräfin, gespielt von Christina Winkel. Sie tritt immer dann auf, wenn es für die Männer besonders peinlich ist und verkörpert eine Moral der ehrlichen Wahrnehmung. In der Schlußszene lösen sich alle Verwechslungen auf; der Baron, der auch der Gräfin nachgestellt hatte, entpuppt sich als deren Bruder, und die Baronin (Bettina Straub) ist dieSchwester des schürzenjagenden Grafen (Volker- Johannes Richter, der sich gelegentlich einem opernhaften Pathos hingibt). Der Fast-Inzest wird umgemünzt in innigliches geschwisterliches „Liebhaben“. Die „Stimme der Natur“ sei eben nicht zu täuschen, beteuern die vier Adeligen im Schlußquartett und haben doch in den letzten Stunden das Gegenteil zig Mal auf die Bühne gebracht. Wo Stellungnahmen und Konsequenzen nötig wären, versuchen sich die Akteure durch einen mythologischen Naturbegriff vor der Auseinandersetzung mit sich selbst zu drücken. Und auch das Verhältnis zum „Volk“ wird durch ein romantisiertes Verständnis von Landleben und Natur bestimmt. Zwar singen die Dorfbewohner brav den Text: „Auf dem Lande ist's so schön!“, so wie die Herrschaften es gerne hören. Aber durch die musikalische Dehnung der Worte wird sogleich deutlich, daß dahinter Arbeit und Mühsal stecken.

Der Regisseurin Barbara Beyer gelingt es, den hintergründigen und ironischen Witz der Lortzing-Oper auf die Bühne zu bringen. Erstaunliche Parallelen zur Gegenwart werden sichtbar, ohne daß sie den Lortzing-Text von 1842 (der wiederum auf einem Stück von Kotzebue von 1815 beruht) verändert hat. Das zwanghafte Bedürfnis, auf abgesicherte Positionen und vorgestanzte Lebensentwürfe zurückzugreifen und sich nicht auf das eigene Erleben zu verlassen, ist ja auch gerade im Deutschland der Gegenwart alltägliche Erfahrung. Was die Personen eigentlich selbst wollen, bleibt unklar, weil sie sich diese Frage niemals gestatten und jedes Risiko vermeiden wollen. Barbara Beyer hat die einzelnen Figuren differenziert und lebendig herausgearbeitet. Die Personenführung auch in den Chorszenen ist phantasievoll und witzig, ohne jemals ins Klamaukhafte abzurutschen. Von der musikalischen Seite ist die „Wildschütz“-Inszenierung nicht immer überzeugend. Das Orchester spielt, besonders deutlich in der Overtüre, oft unengagiert und unpräzise. Dirigent Thomas Runge vermeidet es, die genau wie im Text vorhandenen Risse und Brüche herauszuarbeiten und überkleistert so gelegentlich das unterschwellig Bedrohliche, das in der tendenziell leichten und harmonischen Komposition Lortzings angelegt ist.

Bei der Premiere am Samstag gab es begeisterten Applaus für die gelungene Inszenierung. In diesem Monat steht der „Wildschütz“ noch zweimal auf dem Stralsunder Spielplan: am 14. und 31. März um 19.30 Uhr. Die Termine für die nächsten Monate sind noch nicht veröffentlicht.