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Archiv-Artikel

DIE ARMENISCHE DIASPORA Vom Überleben

Armenien – „brüllender Steine Staat“, wie Ossip Mandelstam schon 1921 schrieb – ist in diesem Buch weniger ein Land als vielmehr eine Landschaft des Erinnerns, zersplittert und zusammengehalten von Gewalt und Vertreibung und durch eine von jeher „reisende“ Kultur. Huberta von Voss macht diese Kultur erfahrbar, indem sie ihre Angehörigen, die in der ganzen Welt verstreut sind, porträtiert.

Zum Beispiel Madame Anahit. Sie gehörte zur Minderheit in der Minderheit, eine Bohemien, die in den Straßen Istanbuls ihr Akkordeon spielte, eine Großstadtlegende. Wie Mesrop II., Patriarch der Armenier in der Türkei, oder Hrant Dink, Herausgeber der armenischen Zeitung Agos in Istanbul, war sie zeitlebens eine Brücke zur Aussöhnung. Gerade jene, die in der Höhle des Löwen leben, stehen dem Beharren auf Schuldanerkennung durch die Türkei skeptisch gegenüber. Welten trennen sie – auch darin – von der westlichen Diaspora in Los Angeles oder Paris, deren Angehörige in akademischen Archiven und Vorstadtvillen den Völkermord erforschen und dabei immer öfter mit der armenischen Sprache ringen müssen. Welten trennen sie aber auch von den im heutigen Armenien Lebenden, wo Korruption und Armut herrschen. Zwischen Jerewan und Paris, Los Angeles, New York, Buenos Aires, Kalkutta, Istanbul und Berlin spannt sich die Erinnerungslandschaft. Beirut ist ein Zentrum der Diaspora, Jerusalem war eines, bis die Armenier für Israel zu christlichen Palästinensern mutierten und sich das armenische Viertel der heiligen Stadt zu leeren begann. Heute ist es ein Spielball von Grundstücksspekulationen, in dem eine armenische Restgemeinde ums Überleben kämpft.

Huberta von Voss entwirft zusammen mit gut zwei Dutzend Autoren ein Panorama der Armenier heute, das vor allem eines der Diaspora ist. Manchmal wäre weniger mehr gewesen, dennoch beeindrucken die Geschichten und der historische Einleitungsteil, der die deutsche Mitverantwortung für den Genozid nicht ausspart. Kein Buch über den Mord, sondern eines vom Überleben. Überlebt haben zum Beispiel Bücher der ersten christlichen Nation in der Bibliothek des armenisch-katholischen Klosters von San Lazzaro, seit 1717 malerisch auf einer winzigen Insel vor Venedig gelegen. 150.000 Bände und 4.500 Manuskripten liegen hier im Dornröschenschlaf. 1816 klopfte Byron ans Klostertor, verliebte sich in den Ort und lernte Armenisch, um dessen Dichtung ins Englische zu übertragen. Die Vorfahren Armen Petrossians, dem Inhaber des gleichnamigen Kaviar-Imperiums, übersetzten auf andere Weise: Mit tausenden russischen Aristokraten waren sie vor den Bolschewiki nach Paris geflohen. Den heimwehkranken reichen Russen beschafften sie alsbald die edlen Fischeier und wurden selbst reich damit. Alfred und Ophelia Mouradian, ein deutsch-armenisches Paar, retteten im Zweiten Weltkrieg Hunderten von sowjetarmenischen Kriegsgefangenen das Leben. 40.000 bildeten eine armenische Legion innerhalb der Wehrmacht. Nach dem Krieg gingen viele gen Westen, die Heimkehrer verschwanden in Stalins Lagern.

Die Nachgeborenen des Genozids stellen sich, wie die Londoner Schauspielerin Matossian mit ihrer Reise ins syrische Deir-es-Sor, dem Endpunkt der Todesmärsche von 1915, nicht nur dem Grauen des Erinnerns, sie suchen auch nach Hoffnungszeichen. Es gibt sie durchaus. Der Film „Ararat“ des kanadischen Regisseurs Egoyan wurde – wenn auch zensiert – in der Türkei gezeigt, ein türkisches Streichquartett führte in Jerewan die Werke Komitas auf, der einst im Pariser Exil an der Erinnerung an das Morden zerbrochen war. Und auf dem Musa Dagh, jenem durch Franz Werfels Roman bekannten Berg, leben in der heutigen Türkei wieder Armenier.

SABINE BERKING

Huberta von Voss: „Porträt einer Hoffnung: Die Armenier. Lebensbilder aus aller Welt“. Verlag Hans Schiler, Berlin 2005, 400 Seiten, 28 Euro