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Vom Rekordtorschützenkönig in die ProvinzSchieß, Erdal!

Erdal Kilicaslan spielte beim FC Bayern und war auf dem Weg zu einem Star - und zu einem Rollenvorbild der Integration. Heute, mit 23, ist er in der anatolischen Provinz gelandet.Was ist schiefgelaufen?

Die Trophäen von eins stehen auf dem Schrank, heute spielt Kilicaslan in Istanbul. Bild: DENIZ YÜCEL

Trainer Horst Hrubesch wusste seinerzeit, dass er es mit einem besonderen Jahrgang zu tun hatte: "Da waren sehr viele junge Fußballer dabei, die technisch und charakterlich das Zeug hatten, den Sprung nach ganz oben zu schaffen." In der Saison von 2003 auf 2004 hatte er den 84er-Jahrgang übernommen.

Hrubesch, der ehemalige Stürmer des Hamburger SV, der danach acht Jahre lang als Trainer der deutschen U19-Nationalmannschaft tätig war, hatte bereits damals eine ansehnliche Junioren-Mannschaft aufgestellt: im Tor Michael Rensing, der beim FC Bayern gerade die Nachfolge des großen Oliver Kahn angetreten hat; im Mittelfeld Bastian Schweinsteiger, der es in der EM 2008 durch sein Tor auf den Titel von Bild schaffte ("Schweini-Geil!"); außerdem Piotr Trochowski, dem man beim Hamburger SV zutraut, Rafael van der Vaart zu beerben. Und David Odonkor, der bei Betis Sevilla in der Ersten spanischen Liga spielt. Im Angriff schließlich der Kapitän und überragende Star des Hamburger SV-Teams: Erdal Kilicaslan.

Bitte wer?

Erdal Kilicaslan. Von der U 15 bis zur U 20 brachte er es auf 63 Einsätze und schoss dabei 41 Tore - eine Trefferquote in den deutschen Junioren-Nationalmannschaften, die bis heute unerreicht ist. Erdal trug maßgeblich dazu bei, dass die B-Junioren des FC Bayern im Jahr 2001 deutscher Meister wurden, und wiederholte im Jahr darauf diesen Erfolg mit den A-Junioren.

Tiefer Fall

Doch heute, mit dreiundzwanzig Jahren, wo viele seiner früheren Mitspieler zu festen Größen im deutschen Fußball geworden sind, spielt er in der Türkei. Und zwar nicht bei einem der drei großen Istanbuler Clubs, sondern in der tiefsten anatolischen Provinz. In der letzten Saison in Gaziantep an der türkisch-syrischen Grenze, in der neuen im zentralanatolischen Konya, der Hochburg der türkischen Islamisten.

Und selbst wenn es ihm gelingen sollte, noch einmal an seine früheren Leistungen anzuknüpfen, wird aus ihm kein "Role Model" der Integration mehr werden: Für Deutschland wird er nicht mehr spielen können, denn die deutsche Staatsbürgerschaft hat er längst abgelegt.

Was ist geschehen? Ist ihm der frühe Erfolg zu Kopf gestiegen? Ist er einer dieser blasierten Genies, die sich am Ende zu sehr auf ihr außerordentliches Können verlassen statt auf das, was man im Fußball ganz unverkrampft "deutsche Tugenden" zu nennen pflegt - also: rennen, grätschen, Gras fressen? Hat ihn eine seltsame Sehnsucht nach der Heimat seiner Großeltern gepackt? Oder lag es daran, dass es deutschtürkische Fußballer schwerer haben, sich in der Bundesliga durchzusetzen? Ist er womöglich sogar ein Opfer von Diskriminierung? Oder wurde er zu seinen Erfolgen von einem dieser überaus ehrgeizigen Väter oder einer dieser Mütter getrieben, die davon besessen sind, dass ihre Söhne und Töchter all das werden sollen, was ihnen selbst versagt blieb: Eiskunstläuferin, Konzertpianist, Fußballstar?

Diese Fragen führen nach München, Erdal Kilicaslans Geburtsort. Seine Familie lebt dort in einem Einfamilienhaus in Ramersdorf-Perlach, am südöstlichen Stadtrand der Bayern-Metropole. Zum Bezirk gehört auch Neuperlach, die größte westdeutsche Satellitenstadt und genau das, was man einen "sozialen Brennpunkt" nennt.

Doch die Kilicaslans leben in einem weitaus gediegeneren Teil des Bezirks, dort, wo Einfamilienhäuser, blumige Gärten und Autos der gehobenen Mittelklasse das Straßenbild bestimmen. Hierher ziehen Leute, die sich etwas leisten können. In der Nachbarschaft gibt es nur eine weitere türkische Familie. Erdal, der dank seines Fußballtalents schon als Schüler tausend Euro und mehr verdiente, hat zum Hauskauf einen Teil beigesteuert und sich nun im zweiten Stock eine eigene Wohnung eingerichtet. "Sobald ich ein paar Tage freihabe, komme ich nach München", erzählt er. "Meine Familie ist mir sehr wichtig, meine Freundin lebt in München, meine ganzen Freunde sind hier."

Atatürk und Pokale

Zwei Dinge lassen sofort erkennen, dass es sich bei diesem Haushalt um einen türkischen handelt. An einer Wand im Flur hängt Mustafa Kemal Atatürks "Ansprache an die Jugend" aus dem Jahr 1927. Ein Stück Nationalfolklore, das, auf Papier oder auf Stoff gedruckt, etliche türkische Wohnzimmer und Geschäfte schmückt ("Oh du, türkische Jugend! Deine erste Pflicht ist es, die nationale Unabhängigkeit, die türkische Republik immerdar zu wahren und zu verteidigen. […] Die Kraft, die du hierfür brauchst, findest du in dem edlen Blute, das in deinen Adern fließt!"). Den zweiten Hinweis bemerkt man beim Eintreten. Erdal zieht sich die Schuhe aus und bietet dem Gast Pantoffeln an.

Er selbst schlüpft in Badeschlappen mit dem Emblem des FC Bayern. Erdals Wohnung ist anzumerken, dass er nicht wirklich hier lebt. Das Schlafzimmer hat den Charme eines Mittelklassehotelzimmers, nur die Dutzende von Pokalen auf dem Kleiderschrank fallen auf. Die einzige persönliche Note in seinem Wohnzimmer ist eine Steppdecke, ebenfalls mit FC-Bayern-Emblem. "Ich hatte von diesen Sachen noch viel mehr, das meiste habe ich weggeräumt", sagt er.

Zum Gespräch lädt Erdal in die offene Küche der Eltern ein. Dort ist der Fernseher eingeschaltet, zur Mittagszeit läuft der Nachrichtensender n-tv. Wir nehmen am Küchentisch Platz, Erdals Vater Yusuf setzt sich dazu, Mutter Fatma kredenzt Kaffee, setzt sich aber nach einigem Smalltalk auf das Sofa im Wohnzimmer. Nur zweimal mischt sie sich ins Gespräch ein. Einmal, als sie erzählt, wie sie und ihr Mann Erdal vergeblich zuredeten, den Realschulabschluss zu machen, nachdem er wegen seiner vielen Fehlzeiten in der zehnten Klasse sitzen geblieben war. Das zweite Mal, als sie laut auflacht bei der Frage, ob sich Erdal in Gaziantep selbst um alltägliche Dinge wie Kochen und Putzen kümmert. (Die Antwort: Nein, er hat ein Zimmer in einer Wohnanlage des Clubs. Das Personal dort erledigt das.)

Fatma Kilicaslan ist 46, hat als Verkäuferin gearbeitet und ist derzeit arbeitslos. Ihr Ehemann Yusuf ist Facharbeiter bei BMW. Beide kamen schon als Kinder nach Deutschland. Erdal und seine ältere Schwester Bahar, die Kommunikationsdesign studierte und verheiratet ist, gehören somit zur sogenannten dritten Generation der Migranten. Erdals Mutter spricht selbstsicher und freundlich. Aber viel häufiger redet ihr Mann. Er ist auch der Erste, der auf Erdals Karriere zu sprechen kommt. Sein Sohn hört schweigend zu.

Wer von Erdal etwas erfahren will, muss erst mal den Vater stoppen.

"Dein Vater redet viel?"

"Ja, schon. Aber ich höre ihm gerne zu. Ich habe immer auf seinen Rat gehört, weil ich weiß, dass er viel Erfahrung hat. Er hat selbst auch Fußball gespielt."

"Wollte dein Vater, dass du Profifußballer wirst?"

"Nein. Das war immer mein Traum. Und so mit 16, 17 habe ich alles dafür gegeben."

"Es heißt, wer Profi werden will, muss auf vieles verzichten, was für Teenager selbstverständlich ist."

"Ich hatte keine Probleme damit. Nach einem Spiel sind wir auch mal feiern gegangen. Aber natürlich nicht so extrem mit Alkohol und was weiß ich."

"Gibt es nicht einen harten Konkurrenzkampf unter Juniorenspielern?"

"Bei uns gabs das nicht. Jeder hatte sein Ziel vor sich. Aber wir hatten auch eine super Freundschaft. Zu vielen habe ich immer noch Kontakt, mit Christian Lell zum Beispiel war ich gerade ein paar Tage auf Ibiza."

Vordbild Müller

Erdal redet langsam, lächelt dabei oft, wirkt aber zuweilen etwas teilnahmslos. Er ist höflich und freundlich - ein Eindruck, den später seine früheren Betreuer bestätigen werden, die ihn allesamt als nett, brav und respektvoll beschreiben. Dass er ausgerechnet den introvertierten "Bomber der Nation", Gerd Müller, sein fußballerisches Vorbild nennt, passt gut.

Erdal erzählt auch, wie er mit Christian Lell in der F-Jugend angefangen hat. Erzählt, wie jedes Jahr einige Spieler aussortiert wurden und neue hinzukamen, sie beide aber blieben; wie er von Klaus Sammer in die U 15 berufen wurde; wie ihm Horst Hrubesch mit Zustimmung der Mannschaft die schwarz-rot-goldene Kapitänsbinde übertrug; wie sehr ihn Hrubesch in der U 19 und Stefan Beckenbauer als Trainer der Bayern-B-Jugend beeinflusst haben und dass er zu beiden noch immer Kontakt hält. Er erzählt, dass es ein tolles Erlebnis war, an der Juniorenweltmeisterschaft in den Vereinigten Arabischen Emiraten teilzunehmen - die einzigen Spiele übrigens, bei denen sein Vater nicht im Publikum saß. "Sonst war ich bei allen Spielen und oft auch im Training", sagt der Vater stolz.

Der Vater ist auch derjenige, der sich an Daten, Zahlen oder Namen genau erinnert. Und wenn er darüber spricht, klingt es, als rede er von Dingen, die erst gestern geschehen wären. Aber vielleicht ist das immer so, wenn Eltern über die Kindheit ihrer Zöglinge sprechen. Dann erzählt er davon, wie er bei BMW regelmäßig in der Nachtschicht arbeitete, um seinen Sohn tagsüber von der Schule nach Hause und zum Training fahren zu können. "Wir wollten immer unseren Kindern alles geben", sagt er. Man glaubt es ihm. Aber war es zu viel des Guten?

"Natürlich gibt es diese Väter oder auch Mütter, die immer sagen: Du musst, du musst, du musst", erzählt Werner Kern. Der 62-Jährige ist seit zehn Jahren für den Junioren- und Amateurbereich des FC Bayern verantwortlich. Zuvor hat er dort in der zweiten Mannschaft gespielt. Später war er Assistenztrainer bei den Bayern und Cheftrainer in der Zweiten Liga. Er kannte die Kilicaslans sehr gut. "Erdals Vater hat seinen Sohn unterstützt und ihm Orientierung gegeben, ihn vielleicht auch mal in den Hintern getreten, aber ich hatte nie den Eindruck, dass er zu viel Druck ausgeübt hat", sagt Kern. "Wenn Berkant Göktan das Elternhaus von Erdal Kilicaslan gehabt hätte, wäre aus ihm ein Weltklassestümer geworden."

Das größte Talens des FC Bayern

Berkant Göktan, das ist der andere Deutschtürke und das andere Fußballtalent, das nach einem verheißungsvollen Auftakt beim FC Bayern nicht weiterkam. Begonnen hatte seine Profikarriere im Oktober 1998, als Ottmar Hitzfeld den damals 17-Jährigen beim Rückstand gegen Manchester United in der Champions League einwechselte. Doch schließlich konnte sich Göktan in Deutschland nicht durchsetzen und wechselte in die Türkei, wo er bei Galatasaray und Besiktas mit durchwachsenem Erfolg spielte. Inzwischen spielt er wieder in seiner Geburtsstadt München. Allerdings nicht beim FC Bayern, sondern beim Zweitligisten TSV 1860. "Berkant Göktan war gottbegnadet", sagt Kern. "Nach Meinung unserer Trainer war er das größte Talent, das wir jemals beim FC Bayern hatten."

So milde Werner Kern über Erdal redet, so sehr klingt beim Thema Göktan die Klage über ein verschwendetes Talent und die Trauer über eine fußballerische Tragödie durch. Allerdings habe es Göktan auch an vielem gefehlt, zum Beispiel an "den Einsichten, der Professionalität, der Mentalität. Göktan hat völlig den Boden unter den Füßen verloren und war für niemanden mehr zu erreichen", sagt Kern.

Und zwar nicht mal, als es um die Nationalmannschaft ging, denn anders als Erdal entschied sich Göktan für die Türkei. "Wenn die Spieler hier ihren Weg machen, sollen sie auch für Deutschland spielen", meint Kern dazu. "Integration muss man aktiv leben. Man braucht für alles Vorbilder, und wenn es solche Spieler gibt, ist das wunderbar. Wir leben doch nicht mehr in der Steinzeit."

Die Steinzeit, die ist in dieser Hinsicht nicht allzu lange her. Noch Ende der Neunzigerjahre, als Erdal erstmals zu einer Auswahlmannschaft des DFB eingeladen wurde, war die Nationalmannschaft kein besseres Spiegelbild der Einwanderungsgesellschaft als eine Jahreshauptversammlung des Verbandes deutscher Hausmeister. Und wer wollte, konnte am Fehlen von Einwandererkindern im DFB-Team ablesen, wie schlecht es um die Integration bestellt war. Während der DFB das Thema vernachlässigte, und selbst in der Bundesliga kaum deutschtürkische Spieler anzutreffen waren, akquirierte das Europabüro des türkischen Verbands reihenweise die besten Talente: und zwar für die türkische Nationalmannschaft.

Was dachte Kilicaslans Vater, als der Sohn einen anderen Weg einschlug und sich für den FC Bayern entschied? "Wenn die Türken sich so frühzeitig und ernsthaft um Erdal bemüht hätten, hätte uns das natürlich gefallen, ihn für die Türkei spielen zu sehen", meint er. Aber wer beim FC Bayern sei, könne so etwas nicht allein entscheiden. Und die Bayern sähen es nicht gern, wenn ihre Jugendspieler für eine andere Nationalmannschaft spielten, weil diese dann ständig zu Lehrgängen und Spielen eingeladen würden und der Mannschaft fehlten.

Während er das erzählt, hat seine Frau Fatma einige Fotoalben herausgeholt: Erdal am Ball, Erdal im Torjubel, Erdal im Kreis seiner Mitspieler, Erdal im Zweikampf mit dem heutigen spanischen Europameister Andrés Iniesta, Erdal bei einem Empfang mit Edmund Stoiber. Einige Fotos hat sie zusammen mit Ausschnitten aus deutschen und türkischen Zeitungen eingerahmt.

"Tormaschine Erdal" oder "Torhungrig wie Gerd Müller" lauten die Überschriften. Die Fotos und Zeitungsschnipsel zeigen deutlich: Erdal ist auf dem Weg nach oben. Zur Saison 2003 auf 2004 kommt der ersehnte Schritt: Er wechselt in die zweite Mannschaft des FC Bayern. Und dann bricht das Unheil über das sorglose Fußballerleben herein. Für die Kilicaslans ist klar, welchen Namen dieses Unheil trägt: Hermann Gerland.

Der ehemalige Bundesligaspieler trainiert die zweite Mannschaft des FC Bayern. In den vergangenen Jahren hat er etliche Talente zu Bundesligaprofis geformt. Aber er gilt auch als extrem harter Knochen. "Gerland ist ein sehr guter Trainer. Aber er mag keine türkischen Fußballer", sagt Yusuf Kilicaslan. Das sei ihm mit der Zeit immer deutlicher geworden. Warum er sich so sicher ist? "Erdal war Gerland nicht gut genug, einverstanden. Aber was ist mit Serkan Atak? Der hat gerade bei Ankara Oftas eine sehr erfolgreiche Saison gespielt, aber bei Gerland bekam er nie eine Chance. Genauso wie Erdal." Der sich indes nicht darauf festlegen will, dass Gerland Probleme mit Türken hat. Doch er sagt ebenfalls: "Gerland fördert junge Spieler. Aber mich hat er nicht gefördert, er hat mir nie das Vertrauen gegeben, mal vier, fünf Spiele hintereinander zu machen. Er hat mich fertiggemacht."

An der Säbener Straße

Anfangs habe er es akzeptiert, sich hinter Zvjezdan Misimovic und Paolo Guerrero einzureihen. "Aber im Jahr darauf waren die weg - und ich bekam immer noch keine echte Chance. Das hat mich so verunsichert, dass ich mir nicht mehr alles zugetraut habe. Und wenn du in einem Spiel erst eingewechselt und dann wieder ausgewechselt wirst, ist das das Schlimmste, was dir als Fußballer passieren kann."

Selbst als wir am folgenden Tag zum Vereinsgelände des FC Bayern in der Säbener Straße fahren, ist Erdal keine Wehmut oder Verbitterung anzumerken. Doch hier zeigt er Gefühle, die Kränkung ist ihm noch immer anzumerken. "Ein- und auswechseln, so was macht man nicht mit einem Spieler", murmelt er.

"Wenn einer nicht das macht, was ich ihm sage, dann hol ich ihn schon mal vom Platz", antwortet der seinerzeit verantwortliche Trainer Hermann Gerland, als er mit diesen Vorwürfen konfrontiert wird. Gerland ist ein anderer Typ als der freundliche Bayer Kern und der kumpelhafte Hrubesch; selbst wenn er mit Journalisten spricht, klingt er laut und zackig. "Erdal war schon sehr früh ein komplett fertiger Spieler und in der Jugend überragend", sagt Gerland. "Aber dann haben seine Mitspieler ihn überholt, während er in seiner Entwicklung stehen geblieben ist." Und hat er etwas gegen türkische Spieler? "Blödsinn! Aber viele Kinder von türkischen Mitbürgern sind früher entwickelt als deutsche. Sie sind relativ früh groß und schnell und haben früher Haare auf der Brust als ihre deutschen Mitspieler. Aber irgendwann holen die auf."

Etwas verständnisvoller spricht Werner Kern über seinen früheren Schützling. Erdal sei immer Mittelstürmer gewesen, habe bei Gerland aber an der Seite spielen müssen. Allerdings bestätigt Kern, dass die Mitspieler von Erdal beim Übergang zu den Senioren aufgeholt hatten. Erdal sei womöglich daran verzweifelt, dass er seine früher überragenden Leistungen nicht habe fortführen können.

"Problemorientiertes Denken", nennt der Sportpsychologe Thorsten Leber dieses Phänomen. Er ist im "Institut für Sportpsychologie und Mentales Coaching" in Schwetzingen für den Nachwuchsbereich zuständig; sein Chef Hans-Dieter Hermann wurde von Jürgen Klinsmann als erster Sportpsychologe zur Nationalmannschaft geholt. "Ein Spieler, der in ein neues Umfeld kommt, etwa von der Jugend zu den Profis, kann versuchen, die Herausforderung anzunehmen", sagt Leber. "Problematischer ist es, wenn er sich auf die Schwierigkeiten konzentriert. Im ersten Fall sagt er vor oder bei einer Leistungssituation: ,Heute zeige ichs allen.' Im anderen Fall sagt er: ,Oh Gott, heute bin ich aber schlecht drauf. An diesem Punkt kann ein Sportpsychologe mit dem Spieler arbeiten."

Selbst der kann natürlich nicht garantieren, dass aus jedem Teenagerstar ein Bundesligaprofi wird. "Nicht jeder, der ein exzellentes Abitur macht, schafft auch einen exzellenten Hochschulabschluss und wird Topmanager", meint Uwe Harttgen, der zur Bremer Meisterschaft von 1993 gehörte, später Psychologie studierte und heute Nachwuchsmanager bei Werder ist.

In Bremen sind es im Schnitt jährlich nur zwei Spieler, denen der Durchbruch in die erste Mannschaft gelingt.

Und wie war das für Erdal, als es plötzlich nicht mehr weiterging? "Ich habe weiter trainiert", sagt er. Erst auf mehrmalige Nachfrage gibt er zu, dass er damals "fertig" war. "Aber du kannst dich ja nicht den ganzen Tag im Bett verkriechen und weinen. Und ich habe nie an mir gezweifelt und habe mir gesagt: Es gibt noch andere Fußballclubs als den FC Bayern."

Und sei es Gaziantepspor, ein im Niemandsland der türkischen Liga beheimateter Verein. Von dort erhält Erdal in seiner dritten Saison bei Bayern II ein Angebot, das er nicht ablehnen zu können glaubt.

Dabei hat er sich, anders als viele Deutschtürken, vorher kaum für den türkischen Fußball interessiert. Jetzt aber sieht er keine Perspektive - zum Bedauern von Hrubesch: "Er hätte sich durchbeißen sollen. Sein Wechsel ging viel zu schnell. Und hat ihn letztlich nicht weitergebracht."

Tatsächlich läuft es in Gaziantep zunächst nicht besser. Kaum ist Erdal dort eingetroffen, wird der Trainer, der ihn verpflichtet hat, entlassen. Dessen Nachfolger plant nicht mit ihm. Anfang 2006 wird er an den Lokalrivalen ausgeliehen, Gaziantep Belediyespor, Zweite türkische Liga, Endstation.

In dieser Zeit gibt Erdal die deutsche Staatsbürgerschaft ab. Der Grund: Er gehört zu jenen 50.000 eingebürgerten Türken, die stillschweigend wieder ausgebürgert wurden. Da diese Geschichte bei den Deutschtürken für die größte Enttäuschung der vergangenen Jahre gesorgt hat, in der deutschen Öffentlichkeit aber kaum zur Kenntnis genommen wurde, sei sie kurz noch einmal erzählt: Die rot-grüne Bundesregierung schaffte zwar im Jahr 2000 das reine Blutsrecht ab, erschwerte aber Jugendlichen und Erwachsenen die Einbürgerung.

So war es bis dahin üblich, dass man die alte Staatsbürgerschaft abgab, die Deutsche annahm, um dann wieder die alte zu erwerben. Seit der Gesetzesreform aber gilt: Wer nach dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit die vorige wieder erwirbt, hat die deutsche Staatsangehörigkeit automatisch verwirkt. Genau das widerfuhr den Kilicaslans.

Als dieser Sachverhalt durch eine Verfahrensrichtlinie im Jahr 2005 bekannt wird, beantragen Erdals Eltern ein zweites Mal die deutsche Staatsbürgerschaft. Erdal hingegen gibt den deutschen Pass ab. "Die Nationalmannschaft hatte ich schon abgeschrieben, und da ich schon in der Türkei war, habe ich den türkischen Pass behalten." Er bestreitet, dass sein Club ihn dazu drängte, um sein limitiertes Ausländerkontingent nicht unnötig zu belasten. Aber glaubwürdig klingt das nicht.

Schicksalsgenosse aus Österreich

Wenigstens läuft es jetzt fußballerisch besser: Der Trainer des Zweitligisten lässt ihn spielen. Er trifft wieder. Nach einer Rückrunde kehrt er zurück, spielt nun bei Gaziantepspor und trägt in der Saison von 2007 auf 2008 dazu bei, dass der Club die Klasse halten kann.

Und er findet einen Schicksalsgenossen: den in Österreich aufgewachsenen Ekrem Dag. "Wir haben uns gegenseitig geholfen. Weil, die Türkei ist anders, und türkische Mannschaften sind auch anders. Du musst zum Beispiel extrem Respekt vor den älteren Spielern haben. Aber ich glaube, in anderen Vereinen ist es noch krasser."

Anpassungsschwierigkeiten will er jedoch nicht gehabt haben - anders als beispielsweise Selim Teber, der in der vergangenen Saison als Kapitän die TSG Hoffenheim in die Bundesliga führte und zuvor ein Jahr lang im westtürkischen Denizli gespielt hatte: "Mein Türkisch hat nicht immer gereicht, die Leute sind anders, weniger distanziert als in Deutschland. Und das Sagen hatten drei, vier ältere Spieler." Selim Teber ist einer von elf Deutschtürken, die in der Bundesliga spielen. Es doch geschafft haben. Ein anderer, der Stuttgarter Serdar Tasci, gab im August sein Debüt in der A-Nationalmannschaft.

Und Erdal? Was denkt er, wenn er seine früheren Teamkollegen bei einer Europa- oder einer Weltmeisterschaft im Fernsehen sieht? "Ich drücke ihnen die Daumen. Natürlich geht mir durch Kopf: Da hätte ich auch stehen können. Aber ich mach mich deswegen nicht fertig. Ich habe ja immer noch Ziele." Und wenn er sich einen Wunschclub aussuchen könnte? "Einer der Istanbuler Vereine wäre schon ein Traum", sagt er. "Und natürlich der FC Bayern."

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