■ Vom Nachttisch geräumt: Ein 68er Extremist
Es faßt sich wunderbar stabil an. 540 Seiten feinstes Bibelpapier und nur 28 Mark. Nein, keine neue Reihe von Greno. Es ist die gute alte Fundus-Reihe des Dresdner Verlags der Kunst, die ein neues Outfit und neue Herausgeber bekommen hat. Gerti Fietzek und Michael Glasmeier heißen die letzteren, für das erstere ist Sonja Hennersdorf zuständig. Das Debut der neuen Reihe ist ein alter Titel: Marshall McLuhans „Die magischen Kanäle – Understanding Media“. Das Buch stammt aus dem Jahre 1964, die deutsche Übersetzung kam 1968. Ein Weltbestseller. Aber wer hat ihn gelesen? Und gar in Deutschland? 1968 sieht neben diesem Buch unendlich alt aus, ein kurzes Fest, nachdem man die neuen Herausforderungen floh und aufgeregt in den Asservatenkammern der Geschichte nach alten, längst zerschlissenen Kostümen aus der Arbeiterbewegung suchte und mit ihnen einen eigentümlich humorlosen Mummenschanz trieb. McLuhan dagegen beschrieb die Revolution, die wirklich eintraf und in deren Umwälzungen wir jetzt leben. Dabei gibt sich das Buch historisch. Er schildert, wie Fernsehen unsere Welt, unsere Wahrnehmung von ihr und damit auch uns verändert. Die gleichen Vorgänge beschreibt er beim Telefon, in der Kleidung und bei den Waffen. Das letzte Kapitel – es hat den Untertitel „Nicht fürs Leben lernen, sondern leben lernen“ – beginnt mit einem plastischen Beispiel: „In einer Überschrift einer Zeitung hieß es kürzlich: ,Das kleine rote Schulhaus muß gehen, wenn die neue Straße kommt.‘ Einklassige Schulen, in welchen alle Jahrgänge gleichzeitig in allen Disziplinen unterrichtet werden, verschwinden, wenn ein verbessertes Transportwesen Spezialräume und Fachunterricht möglich macht. Bei äußerster Beschleunigung der Bewegung jedoch verschwindet die Spezialisierung der Räume und der Gegenstände wieder. Mit der Automation werden nicht nur Berufe verschwinden und ganzheitliche Rollen wieder aufkommen.“ McLuhan war ein Extremist. Der Literaturprofessor sah sich an, was seine Existenz bedrohte, und zeigte, wohin es führte. Er tat das kühl genug, um auch die positiven Möglichkeiten zu sehen. Er war Fatalist genug, um zu wissen, was unabänderlich war, und Realist genug, um gerade darin eine Chance zu sehen. Wenn das jemand Dialektik genannt hätte, hätte er gelacht und gesagt: Nein, nein, the medium is the message.
Schade, daß dieser Ausgabe kein aktuelles Vor- oder Nachwort beigegeben ist. Wenn schon die Herausgeber sich nicht äußern wollen, warum hat man nicht z.B. Virilio eine Einführung in die Neuausgabe schreiben lassen?
Marshall McLuhan: „Die magischen Kanäle“. Übers. Meinrad Amann, Verlag der Kunst, Dresden 1994, 540 Seiten, geb., 28 DM
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