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Vom Dauerläufer zum Sanierungsfall

Volkswagen, Europas größter Autokonzern, steckt in der Krise/ Zu hohe Produktionskosten zwingen zu Personalabbau und Sparmaßnahmen/ Die Ära des VW-Bosses Carl Hahn geht zu Ende  ■ Von Erwin Single

Als der VW-Aufsichtsrat Ende 1990 seinen Vertrag über die Altersgrenze hinaus um zwei Jahre verlängerte, war sich Carl Hahn über das eingegangene Risiko im klaren. „Man hat nie eine Garantie für die Umstände“, orakelte der Konzernlenker, „unter denen man abritt.“ Wenn die Kontrolleure des größten europäischen Autoherstellers heute wieder zusammentreffen, geht die Ära Hahn zu Ende: Bereits zum Jahreswechsel, also ein Jahr früher als geplant, werden der Audi-Chef Ferdinand Piech und der VW-Vorständler Daniel Goeudevert das Steuer des Wolfsburger Autokonzerns übernehmen. Schließlich gehe es, so der Hannoveraner VW-Betriebsratsvorsitzende und Aufsichtsrat Gerhard Mogwitz, um „das Schicksal von Volkswagen in den nächsten zehn Jahren“.

Das Aufsichtsgremium um den agilen Ruhrgas-Chef Karl Liesen war unruhig geworden. Volkswagen verkaufte zwar im vergangenen Jahr mehr Autos als je zuvor, doch das bilanzierte Zahlenwerk entpuppte sich als finanzielles Desaster. Das reine Autogeschäft schreibt rote Zahlen; rund 720 Millionen Mark Verluste mußten die Autobauer im letzten Geschäftsjahr einstecken. Ein Schuldiger für den operativen Verlust war schnell gefunden: Dem 65jährigen Hahn, der den Autokonzern in seiner zehnjährigen Amtszeit zu einem weltweit agierenden Imperium ausgebaut hatte, waren längst die Kosten davongaloppiert. Dreistellige Millionenverluste in Nord- und Südamerika, Dollar- und Zinsrisiken und ein weltweit knochenharter Wettbewerb haben zudem in der Ertragsrechung unübersehbare Spuren hinterlassen.

Wo immer der scheidende VW- Chef auch hinschaute, entdeckte er neue Märkte. Allein im Fünfjahresplan des Konzerns sollen bis 1996 weltweit 82 Milliarden Mark investiert werden. In Mosel bei Zwickau ließ „Mr. Volkswagen“, sehr zum Gefallen des Kanzlers, eine neue Fertigungsanlage aus dem Boden stampfen. Nach hartem Ringen mit dem französischen Konkurrenten Renault legte sich VW im letzten Jahr den einzigen tschechoslowakischen Pkw-Hersteller Skoda zu. Hahns Blick richtete sich dabei auf den osteuropäischen Absatzmarkt, doch der ist erstmal in weite Ferne gerückt. Allein in Osteuropa sollten 1996 eine halbe Million Einheiten verkauft werden — angesichts der ökonomischen und sozialen Probleme schlichtes Wunschdenken. Die vierte Automarke im VW-Konzern (neben VW, Audi und Seat) wird bis zum Jahr 2.000 mehr als neun Millionen Mark verschlingen — die Verluste gar nicht eingerechnet. Doch trotz aller Risiken investierte Hahn kräftig weiter: Bei Barcelona wird für 4,5 Milliarden Mark ein neues Seat-Werk hochgezogen. Im portugiesischen Sebutal will VW gemeinsam mit Ford eine neue Großraumlimousine bauen. Die Kosten dieses Joint-Ventures: vier Milliarden Mark. Und auch Fernost und Amerika ließ der von Auto-Journalisten erst kürzlich zum „Mann des Jahres“ gekürte Firmenboß nicht aus den Augen: In den Ausbau der Fertigung in Shanghai und Changchun in der Mandschurei, mit denen VW den Einstieg ins Asiengeschäft gelang, werden 3,2 Milliarden gesteckt. Weitere 1,5 Milliarden fließen nach Mexiko, um die Kapazitäten für das Nordamerika-Geschäft auszubauen.

Mit diesem Kraftakt wollte die alte Konzernspitze die Jahresproduktion von 3,3 Millionen Autos im letzten Jahr bis 1996 um ein Drittel hochschrauben — ein viel zu optimistischer Ansatz, wie nicht nur Branchenexperten vermuten. Denn dem Automobilsektor steht ein kräftiger Abschwung bevor. In Nordamerika sank die Autoproduktion 1991 bereits um rund 500.000 auf 6,9 Millionen Fahrzeuge, und selbst die erfolgsverwöhnten japanischen Autohersteller mußten erstmals einen Rückgang um drei Prozent auf knapp unter 10 Millionen verkraften. Prognosen zufolge werden die deutschen Fahrzeugbauer, die in den beiden letzten Jahren überdurchschnittlich vom ostdeutschen Auto-Boom profitieren konnten, in diesem Jahr nur 4,6 Millionen Autos absetzen können, vier Prozent weniger als 1991.

Die Exporte der deutschen Autoindustrie waren 1991 bereits um 15 Prozent zurückgegangen. Und nach 1992, so fürchten die Autokonzerne, könnten noch mehr japanische Wagen den Binnenmarkt niederwalzen. Gerade dort aber wollen die Wolfsburger 600.000 Autos mehr absetzen und den Marktanteil um über vier auf 20 Prozent hochschrauben.

Das gestiegene Ertragsrisiko, kritisierte der Gesamtbetriebsrat, solle wieder einmal durch neue Produktionsrekorde kompensiert werden. Doch selbst darauf sei der Konzern nicht richtig vorbereitet, lautet dessen interne Analyse. Auf der Jagd nach immer höheren Absatzzahlen hat es der VW-Konzern nicht nur versäumt, die Geschäftslage zu verbessern, sondern auch bei den Produktionskosten Anschluß an die enteilende Konkurrenz zu finden. 1990 belief sich der Produktivitätsnachteil von Volkswagen im europäischen Wettbewerbsumfeld auf 23 Prozent. Verglichen mit den durchschnittlichen Herstellungskosten japanischer Konzerne, errechnete die Unternehmensberatung McKinsey im letzten Jahr, produzierte VW um 40 Prozent teurer und wurde nur noch von den Nobelkarossenherstellern Mercedes und BMW übertroffen. Der Grund: Die Mitarbeiterzahl mit 127.000 im Inland ist zu hoch und hat selbst beim Gesamtbetriebsrat Nachdenklichkeit ausgelöst. Schon um die hohen Fixkosten zu decken, müssen die Bänder zu 80 Prozent ausgelastet sein. Außerdem plagen die Wolfsburger eine zu große Fertigungstiefe, hohe Fertigungszeiten und ein gewaltiger Dienstleistungsapparat. Volkswagen ist so zum Sanierungsfall geworden.

Angesichts rückläufiger Geschäftsergebnisse kündigten die Autobauer Ende März prompt den Abbau von 12.500 Arbeitsplätzen in den nächsten fünf Jahren an. Die von VW-Manager Goeudevert laut dem 'Manager‘-Magazin genannten Zahlen, wonach in den kommenden vier Jahren sogar 25.000 Stellen gekappt werden sollen, ließ der Konzern eilends dementieren. Vom unermüdlichen Antreiber Piech erwartet der Aufsichtsrat, daß er die Produktionskosten drastisch senkt. Der Ingeinieur, so glauben die Aufsichtsräte, habe sich als „Herr der Ringe“ dafür bereits qualifiziert: Piech hat aus der spröden Autofirma Audi ein hochrentables Unternehmen gemacht. Die Profite der Ingolstädter Werke legten in den letzten drei Jahren kontinuierlich zu — aber auch erst, nachdem sie intern bereinigt wurden.

Der ehrgeizige Porsche-Enkel ist jedenfalls am Ziel seiner Träume. Ob er dem Kostenvorteil von Toyota, Nissan und Honda beikommen kann und Volkswagen wieder auf profitable Räder bringt, steht auf einem anderen Blatt. Daß der Kampf im Autogeschäft immer gnadenloser wird, weiß Piech längst. Wenn Europas Autokonzerne nicht in kürzester Zeit Anschluß an das japanische Niveau fänden, so der Audi-Chef im letzten Jahr, „werden auf unseren Stühlen Asiaten sitzen“.

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