Village Voice : Für den irgendwie gefühlten Nihilismus haben Cobra Killer mit „76/77“ das passende musikalische Rezept
Ich möchte es die Theorie des Rinnsteins nennen. In der Kunst hält sich ja hartnäckig der Gedanke, dass die Gosse so ein existenzialistischer Ort des irgendwie Echteren sei, wo wenigstens noch die Boheme gegen den Bürger in Stellung gebracht werden kann. Das Reden über HipHop ist voll von dieser Vermutung, und früher wurde die Erwartung auf das wirkliche Leben mit dem Suhlen im Dreck dem Rock ’n’ Roll aufgesattelt, der nun wirklich ein klassisches Mittelschichtskind ist. Halt alles so eine romantische Verklärung, selbst wenn ein gelebtes Leben tatsächlich hart am Absturz geführt wird. Einfach, weil das Gleichheitszeichen zwischen Kunst und Leben nicht funktioniert.
Das intensivierte Leben. Bis hinein in den Schmerz. Der Exzess. Der irgendwie gefühlte Nihilismus. „Let’s have a problem“ wünschen sich Cobra Killer inständig gleich mit ihrem ersten Song auf „76/77“. Ja, zeig mir doch deine Wunde! Nach den Konzerten von Cobra Killer ist hinterher von exzessiven Ritualen mit Rotwein und Blut zu lesen, und auf dem nun erscheinenden Album ist alles eine Spur stumpfer und schlampiger, als man es eigentlich hinkriegen könnte. Auf jeden Fall die Gäste, die sich Gina V. D’Orio und Annika Line Trost geladen haben: die Devastations, Erik D. Clark, Thomas Fehlmann und weitere mehr, die alle freudig mithelfen, mit dem Kuttereimer zu musizieren. Die Samples werden mit der Speckseite gegen Electrobeats geworfen. Hauptsache, alles klingt ein wenig schmutziger.
Wobei Dreck halt nicht immer gleich zum guten Trash wird, denn „Mund auf – Augen zu (Stecker raus, ich dreh durch)“ klingt genau so wie die Textzeile, nämlich als hätte Mias Mieze ein einigermaßen debiles Remake vom „Guten Tag (Die Reklamation)“ von Wir sind Helden gemacht. Auch Zeilen wie „Sobald ich Geld hab, sobald ich kann / Verlass ich Stuttgart, und gehe nach Marzahn“ verstehen wir barmherzigerweise als ironisch gemeint, obwohl wir uns längst wünschen würden, von derlei DAF-Äffungen verschont zu bleiben.
Jetzt muss man vielleicht aber auch sagen, dass Cobra Killer prominente Bewunderer haben. Sonic Youth etwa, mit denen das Berliner Duo einige Konzerte bestritten hat. „I really loved it“, meinte Thurston Moore. Auch auf dem Album finden sich solche Momente, wenn Cobra Killer an den Nachtschattengewächsen schnuppern. Böse sich aufplusternder Blues oder derangierter Rockabilly. Dann macht es Spaß, weil aus solchen Heiligenschreinen die Tav-Falco-Stimmung kaum zu vertreiben ist, von der Cobra Killer kurz zehren, bis es wieder stumpf und schlampig wird und voll das harte Discoleben stampft. Was ermüdend langweilig sein kann.
Vielleicht liegt das auch nur daran, dass die Gosse immer so schmal eingerichtet ist. Eine zwiespältige Angelegenheit, dieses „76/77“: mit Musik, die in selbst aufgestellte Fallen tappt. Sorgsam ist hier alles darauf bedacht, ja nur mächtig zerschossen und übernächtigt aufgedreht zu sein, und die Musik trägt das dann genauso blöd vor sich her wie andere ihr Prada-Täschchen. „76/77“ erscheint am 26. Juli. THOMAS MAUCH