Village Voice : Eine Flaschenpost mit Sven-Åke Johansson aus den Free-Jazz-Tagen im SO 36 und aktuelles Strandgut von Berliner Bands mit viel Gitarren
Gemischtwaren. Man muss ja seine Ohren nach allen Seiten hin offen halten und dabei auch in die Vergangenheit horchen. Zuerst die old songs – wobei Lieder die Sache nicht wirklich treffen bei Sven-Åke Johansson mit dem NMUI, dem Nordeuropäischen Melodie- und Improvisationsorchester. Eine Aufnahme, die zu Teilen schon mal in den 80ern als Single bei FMP veröffentlicht wurde. Free Jazz also. In exquisiter Besetzung, mit Hans Reichel, Rüdiger Carl, Maarten Altena und anderen Kämpen mehr, die sich beim Powerplay in gospelartigen Crescendi hineinsteigern, wie man das von anderen Großgruppenimprovisationsorchestern kennt, und auch, dass dieser große Atem immer wieder in Einzelstimmen zerfasert, sich neu sammelt in Zweier-, in Dreiergesprächen. Natürlich ist das nicht das richtige Produkt, um Free-Jazz-Hasser von ihren Vorurteilen abzubringen (denen würde ich alte Aufnahmen von Johansson, Reichel und Carl mit Ernst-Ludwig Petrowsky im Bergisch-Brandenburgischen Quartett vorschlagen), und gerade deswegen der allerschönste Rummelfreejazz, sogar mit volkstümlichem Schunkeleinschlag zwischendurch, wie man ihn wirklich fast nur noch aus den Archiven haben kann.
Ein historisches Dokument: Weil hier der Free Jazz mit seinen Lotungen in Neuer Musik, der absurden Theatralik und auch einer bruitistischen Soundästhetik vorgestellt wird, die zumindest ahnbar macht, dass zu der Zeit zwei Kellerlöcher weiter bereits das Geniale Dilletantentum mit dem Trommeln in der Nacht auf seinen Einsatz wartete. Und auch in der Beiläufigkeit, mit der das Konzert 1979 im SO 36 mitgeschnitten wurde, mit den Interventionen des Publikums, was so auch dem Ort ein Denkmal setzt, an dem damals Martin Kippenberger (von dem dazu das Cover stammt) das Programm machte, als eine offene Schnittstelle für Wave, Punk, Industrial und eben Free Jazz. Man muss sich schon genau umschauen, um derlei derzeit in Berlin zu finden.
New songs: Die dritte Ausgabe des Strandgut-Samplers, eine Art Werbeplattform für junge Berliner Bands, demonstriert gut die Theorie vom abgesunkenen Kulturgut, wie schnell die Umläufe im Geschäft sind. Und wie lange sich was hält. Mit Katjaa etwa hört man eine Band, die astrein wie Mia klingt, und in der nächsten Strophe astrein nach Wir sind Helden: was erstens bestens gemacht ist und man fast als Reflexion über das Berliner Poptreiben hören könnte, während sich andererseits im Segment des Alternative Rock wohl seit den Meat Puppets nichts mehr am Muster des Karohemds getan hat und damit doch wieder gut in der Zeit steht. Schließlich trägt man wieder gern Gitarre. Viel ist davon zu hören hier, mit Punkrock, Ska, zerstrubbeltem Schrabbeln und Headbanger-Stoff. 21 Bands. Der handwerkliche Standard bei der Aufnahme verblüffend hoch, dramaturgisch geschickt zusammengestellt. Hier erfährt man, was die Basis wirklich denkt (www.strandgut3.de). Release-Party mit Elikan Dew, Lilit, Madcap Fool, Katjaa, Parkfield, Siva und Green Means Go am heutigen Freitag im Columbia Club, 18 Uhr, 6 Euro. THOMAS MAUCH