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Village VoiceWasser und Leben

■ Kalabrische Folklore – im Grunewald zusammengestellt

Ein Mann singt, begleitet von einer sägenden Dudelsackmelodie, eine gefühlvolle Serenade für seinen Freund Pasquale, den Musiker. Seine Stimme schwingt sich in höher gelegene Frequenzregionen, paßt sich in langen gesungenen Noten der Charakteristik des Instruments an, imitiert es beinahe.

Der Mann heißt Pietro Carmine Russo und ist nur einer der ungewöhnlichen Vokalisten auf der gerade erschienenen CD „Folk Music of Calabria“, herausgegeben von dem seit dreißig Jahren eher im Verborgenen wirkenden Internationalen Institut für traditionelle Musik im Grunewald. Die schroffen, rauhen Stimmen jeden Alters, die für nordische Ohren oft klagend wirkenden Gesangsparts, die nasalen, gutturalen Laute, die die – in ihren Ortschaften ob ihrer Kunstfertigkeit meist angesehenen – SängerInnen ihren Kehlen entlocken, verwirren inmitten der coolen Stimmbandglätte und vokalen Künstlichkeit des Marktes.

Die in Kalabrien weit verbreiteten Polyphonien machen die melodische und rhythmische Eigenständigkeit der verschiedenen Stimmen besonders deutlich. Oft improvisiert eine Lead- Stimme, die anderen brummen, summen, singen den Text versetzt oder mit einer in der europäischen Kunstmusik ungewöhnlichen Betonung.

Wie wichtig der Gesang innerhalb der kalabrischen Kultur war und ist, zeigt auch eine von vier Frauen gesungene „all'aria“ – ein Lied, das traditionellerweise die Feldarbeit begleitet: in früheren zeiten wurden die FeldarbeiterInnen nach der Qualität und Professionalität ihrer Gesangskunst ausgesucht. „Ich gebe dir Wasser und auch mein Leben“, singen sie. Wem?

Der beinahe zwei Jahrhunderte dauernde Einfluß arabischer Eroberer im Süden Italiens ist auf der Zusammenstellung ebenso unüberhörbar wie der musikalische Beitrag der in Kalabrien ansässigen griechischen und albanischen Gemeinden. Letztere sind nicht nur mit ihrer Musik, sondern auch mit ihrer Sprache, die eine Kreuzung aus kalabrisch und albanisch ist, vertreten.

Auch die in der teils äußerst temporeichen Musik verwendeten Instrumente bieten eine erstaunliche Mischung, verfügen über Sounds, wie sie heute eher in der Avantgardemusik zu finden sind. Schlaggitarre, Tambourine und Friction Drum ersetzen meist andere Schlagwerke; verschiedenste Flötenformen, Lyren und Dudelsackvariationen bewältigen spielerisch Soli, hinterlassen keinerlei akustische Mangelgefühle.

Das Internationale Institut für traditionelle Musik, das bis vor kurzem „Internationales Institut für vergleichende Musikstudien“ hieß (und unter selbigem Namen bislang auch noch im Telefonbuch zu finden ist), entstand 1963 im Nachkriegs-Berlin. Seit drei Jahren erscheint dort die Reihe „Traditional Music of the World“. Der boomende Weltmusikmarkt hat bislang nicht viel Notiz davon genommen – dafür präsentieren sich die Veröffentlichungen zu musikethnologisch, zu wenig auf vermarktbaren Exotismus getrimmt.

Eigentlich schade: die Tarantellas, Sonaten, Serenaden, Songs und anderen polyvokalen Stücke, die in zwei Jahrzehnte dauernden Feldstudien aufgenommen wurden, bieten nicht nur einen Querschnitt durch die verschiedenen Kulturregionen Kalabriens, sie sind außerdem Beispiele für eine äußerst vitale, lustvolle Musik. Leider haben die Herren Wissenschaftler – ganz der Dokumentation verpflichtet – die eine oder andere Aufnahme nach einer oder zwei Minuten ausgeblendet. Anna-Bianca Krause

Diverse: „Folk Music of Calabria“. Hrsg. vom Berliner Institut für traditionelle Musik.

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