Village Voice: Fälle für die Gerichtsmedizin
■ Q-Tips und Preßlufthammer: Exedra wollen die Gehörgänge von Bullshit und Alltagslärm befreien, Freicore fräsen sich brachial Schneisen durch den Körper
Manchmal bereitet die Lektüre der Waschzettel, die den frischgepreßten Silberlingen beigelegt sind, fast größeres Vergnügen als das Abhören der CDs. So lassen Exedra wissen, daß sie „angetrieben durch das Ungleichgewicht zwischen Schwermut und stetiger Unzufriedenheit“ versuchen, „schräge und doch harmonisierende Klänge der Stille zu entreißen“.
Und wozu diese Anstrengung? „Um die Gehörgänge von Alltagslärm und Bullshit zu befreien.“ Obwohl für diese Aufgaben Easy Listening oder Q-Tips besser geeignet wären, dürfte es ihnen trotzdem gelingen, mit ihrem Debüt-Album „Kingdom of the Blind“, dessen aufklappbares Cover ein verfaulter Apfel ziert, aus dem modrigen Windschatten der Gruft- und Waveszene hervorzutreten.
Beeinflußt von Bauhaus, Cure und Joy Division haben sie sich in eineinhalbjähriger Arbeit bemüht, halbwegs eigenständige Klangstrukturen zu entwickeln, die immer wieder haarscharf an den esoterischen Sphärenklängen von Dead Can Dance und dem düsteren Kitsch der Sisters of Mercy vorbeischrammen.
Ihre schaurig-schöne Coverversion des Iggy-and-the-Stooges-Klassikers „Now I Wanna Be Your Dog“ weist deutlich auf ihre Absicht hin, endlich auch außerhalb der Gruftwelt wahrgenommen zu werden.
Die zehn Stücke, von denen zumindest das eingängige „Calling in My Head“ Hitqualität hat, sollten zusammen mit der aufwendigen Verpackung elf echte Argumente für diese Platte sein, die zwar Ian Curtis nicht auferstehen lassen wird, aber jedem Rave-Remix der Cure oder den Fußballhymnen von New Order vorzuziehen ist.
Ob sich Exedra allerdings „durch die Vermeidung der üblichen Klischees“ wirklich „aus der Masse der Mittelmäßigkeit“ abheben werden, bleibt zweifelhaft – besonders ausgefallen sind schwarze Klamotten, Kajal unter den Augen und Friedhofsgesang auch nicht mehr.
Vergleichbar wenig Bescheidenheit zeigen Freicore, das aktuelle Kreuzüber-Projekt von Dieter Zobel und Robert Dämming — zwei Musiker, die bereits bei den Flaming Demonics („ultraharter Noise-Punk“) in Paris und im Freien Orchester in Ostberlin ihre Erfahrungen mit den Geheimnissen schrägen Lärms sammelten.
Irgendwo da draußen, im unwirtlichen Gelände „zwischen Napalm Death, Pantera, Helmet, ZeviGeva und völlig freien Sounds“ sind sie vom Glauben an die Fähigkeiten des menschlichen Gehörs abgefallen und konstatieren: „Der Sound ist brachial, und es reicht nicht aus, die Wahrnehmung über die Ohren abwickeln zu wollen. Der erbarmungslose Druck der Bassdrum ist für die Magengrube bestimmt. Die Rhythmusattacken sind für die vier Extremitäten und einen kräftigen Nacken vorgesehen. Die Gitarre fräst sich die seltsamsten Wege durch den Körper.“
Was ganz nach einem Fall für die Gerichtsmedizin klingt, ist in diesem Fall als Kunst gemeint, denn das in drei der 13 Stücken von Gert Anklam zusätzlich gemarterte Saxophon macht klar: Hier ist die Avantgarde am Werk! Ohne diesen ziemlich überzogenen Kunstanspruch, der „extreme Musik“ mit redundanten Textfragmenten verbindet, wäre „Slow Times“ eine spannende Herausforderung geworden. Wenigstens ist es möglich, dieses Werk auch leise zu konsumieren und dabei an einigen interessanten Stellen die Fragwürdigkeit eingeschliffener Rezeptionsgewohnheiten zu erkennen. Gunnar Lützow
Exedra: Kingdom of the Blind (Alice in ...)
Freicore: Slow Times (Ecocentric Records)
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