Vier türkeistämmige Kandidaten in Kreuzberg: Auf die Gesichter achtet keiner
Im Wahlkreis 3 von Kreuzberg gehen Grüne, SPD, CDU und Linke mit türkeistämmigen Kandidaten auf Stimmenfang. Was halten ihre Wähler davon?
Kadir ist überrascht: "Guckt mal, der hat ja sogar nen Doktortitel!" Der Kreuzberger steht in der Naunynstraße und zeigt auf das Plakat, von dem der grüne Kandidat Turgut Altug herabgrinst. "Die ganzen Parteien wollen doch nur Stimmen von uns, weil sie denken, wir wählen die wegen ihrer Herkunft. Aber das tun wir nicht", sagt der 20-jährige Deutschtürke, der frisch aus dem Türkeiurlaub zurückgekommen ist. Seine Wahlbenachrichtigung lag da schon im Briefkasten. "Der einzige Vorteil der türkischen Kandidaten ist, dass sie türkisch sprechen können."
Zur Abgeordnetenhauswahl am 18. September treten vier türkeistämmige Kandidaten im Wahlkreis 3 an. Der liegt zwischen Mitte im Norden und der U1 im Süden, geht bis zur Wilhelmstraße im Westen und zum Schlesischen Tor im Osten. Für die CDU tritt der 40-jährige Ertan Taskiran an, der mit Themen wie Jugendarbeitslosigkeit und drogenfreies Kreuzberg punkten will. Seine Kontrahentin aus der Linkspartei ist die 45-jährige Sozialpädagogin Figen Izgin.
Gute Chancen rechnet sich der 39-jährige Rechtsanwalt Muharrem Aras von der SPD aus, dessen Themen steigende Mieten und Gentrifizierung sind. "Mich interessiert Politik nicht, aber ich würde SPD und Muharrem Aras wählen", sagt ein junger Türke an der Dönerbude auf dem Moritzplatz. "Sarrazin ist nur ein Sonderfall in der Partei." Auch Hussein, 43 Jahre alt und Koch, will die SPD wählen, weil er ihre Werte gut finde.
Die vier türkeistämmigen Kandidaten für den Wahlkreis 3 in Kreuzberg stehen Mittwochabend ab 19.30 Uhr allen Interessierten Rede und Antwort - im taz-Wahllokal, der Debattenreihe zur Abgeordnetenhauswahl im taz Café. Die Runde unter dem Motto "Wem gehört der Kiez" wird von taz-Redakteurin Alke Wierth moderiert. Es ist der erste von fünf Themenabenden, die bis zum 18. September immer mittwochs in der Rudi-Dutschke-Straße 23 stattfinden. Alle Termine, alle TeilnehmerInnen unter www.taz.de/veranstaltungen.
Im Jahre 2006 zog Özcan Mutlu (Grüne) mit 33,8 Prozent der Stimmen in das Abgeordnetenhaus ein. Für seinen Nachfolger, Turgut Altug, sieht es dieses Jahr offenbar auch nicht schlecht aus, viele Passanten auf der Oranienstraße wollen die Grünen wählen: "Natürlich Grün!", sagt ein türkischer Gemüsehändler und klopft stolz auf den "Atomkraft? Nein Danke"-Aufkleber auf seiner grünen Gemüsewaage. "Die stehen halt für Natur", lässt er von einer Kundin übersetzen und zeigt auf den Stand des Kandidaten Turgut Altug (Grüne) ein paar Meter weiter, der gerade in eine hitzige Diskussion verwickelt ist.
"Die Chancen für Grün sind groß", sagt auch Matthias Bauer, der neben Altugs Stand am Oranienplatz steht und sich einen Flyer der Grünen durchliest. "Ich wähle die Partei und ihr Programm, der Kandidat ist nicht so wichtig", findet der 36-Jährige. Klaus Schuster (53) sagt dasselbe: "Ist doch egal, ob der Kandidat ein Vietnamese oder Türke ist, für mich zählt nur das Parteiprogramm."
Die Menschen auf der Straße beschäftigen vor allem die steigenden Mieten. "Die Herkunft der Kandidaten ist mir egal, aber die steigenden Mietpreise nicht", sagt die 57-jährige Brandenburgerin Bärbel Heilscher, die seit 15 Jahren in Berlin lebt. Auch Kadir glaubt: "Den Türken in Kreuzberg ist doch egal, ob die Kandidaten hier türkisch sind oder nicht, wenn sie bald wegen der steigenden Mieten nicht mehr hier leben können oder keine Arbeit haben", sagt Kadir und schaut auf die vielen Wahlplakate in seiner Straße.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?