Vielvölkerstaat Bayern für Fortgeschrittene: Bajuwaristan und seine Stämme
Am Mittwoch entscheidet die CSU-Landtagsfraktion über Bayerns neuen Ministerpräsidenten. Die Stammesfürsten des Vielvölkerstaates reden mit - ein Überblick
Unterfranken
Provinzfürst: Michael Glos, 63 Bundeswirtschaftsminister.
Sind für: Alles, bloß nicht Seehofer.
Als zur Zeit Napoleons Franken unter bayerische Herrschaft gestellt wurde, war die Enttäuschung in der Gegend um Würzburg am größten: "Die meisten Köpfe scheinen verwirrt", heißt es in einem Bericht an den Münchner Kurfürsten Max Joseph von 1802: "Mancher schmäht stundenlang die bayerische Regierung." Viel hat sich in den folgenden 206 Jahren nicht geändert. Ein übermächtiger Horst Seehofer in München ist mit der weintrinkenden Minderheit aus dem Nordwesten nicht zu machen. Sie würden sogar den Kunstminister Thomas Goppel als Ministerpräsidenten unterstützen, war in den vergangenen Tagen zu hören. Und Joachim Herrmann wähnt die Unterfranken in seinem einsamen Kampf gegen Seehofer auf seiner Seite. Die Geheimwaffe der Unterfranken ist ihr mächtiger grauer Mann aus Berlin: Michael Glos. Der soll Seehofer dazu überreden, in der Bundesregierung zu bleiben - und könnte damit sogar Erfolg haben.
Mittelfranken
Provinzfürst: Joachim Herrmann, 52, Innenminister.
Sind für: Joachim Herrmann
Hier ist das letzte Widerstandsnest gegen die immer mächtiger werdende Seehofer-Koalition aus dem Süden. Dass bald alle Macht in Partei und Staat von einem Haufen Oberbayern ausgeübt wird, wollen sie nicht einsehen. Hier sind die protzigen Kirchen evangelisch, die SPD hat richtige Hochburgen und Semmeln heißen "Weggla". Inzwischen ist der FC Nürnberg abgestiegen und Beckstein zurückgetreten. Deshalb kämpfen die Franken bis zur letzten Sekunde für Joachim Herrmann als Ministerpräsidenten. Der ist aber in München geboren und katholisch. Als Innenminister veranlasste er, dass auf der Nürnberger Burg in Zukunft nicht mehr die rot-weiße Frankenflagge wehen darf, sondern nur noch das bayerische Weiß-Blau.
Schwaben
Provinzfürst: Markus Ferber, 43, Abgeordneter im Europaparlament.
Sind für: Horst Seehofer.
Rein ethnologisch betrachtet sind die Schwaben, neben den Bajuwaren und den Franken, einer von drei bayerischen Urstämmen. Politisch waren sie aber nie viel mehr als ein Anhängsel der übermächtigen Oberbayern. Ihr Bezirk wirkt auch wie eine Kopie des bayerischen Kernlandes. Im Süden romantische, wenngleich schwer zugängliche Alpen und Seen, ein ideales Rückzugsgebiet der bayerischen Boheme, davor grüne hügelige Wiesen, mit knuddelig vor sich hin kauenden Milchkühen, im Norden, rund um die uralte Stadt Augsburg, milliardenschwere Hightech-Industrie. Vielleicht liegt das politische Schwächeln der Schwaben auch einfach an ihrem politischen Personal. Dass aus Georg "Schüttelschorsch" Schmid nach seinem von Mittwochabend bis Freitagfrüh durchgehaltenen Kampf um das Ministerpräsidentenamt und dem großen Erfolg des von ihm erdachten Rauchverbotsgesetzes noch einmal etwas wird, glaubt keiner mehr. Und wer ist eigentlich noch mal Markus Ferber?
Oberbayern
Provinzfürst: Siegfried Schneider, 52, Bildungsminister.
Der wahre Provinzfürst: Edmund Stoiber, 67, Rentner.
Sind für: Horst Seehofer.
Um zu wissen, wer in der CSU die Lederhosen an hat, reicht allein ein Blick auf die bayerischen Ministerpräsidenten, die aus dem Bezirk kamen, von Strauß bis Seehofer! Oberbayern ist nicht nur unter Bayerns Bezirken der größte, bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste, sondern auch die Region, in der all die Bayernklischees erfunden wurden. Hier stehen die Häuser mit den Jodelbalkonen, hier böllern die Gebirgsschützen und hier gibt es mit München sogar eine "Weltstadt". Für die CSU könnte es also keinen schöneren Ort geben, aber Oberbayern ist eben auch die Heimat der bayerischen Aufmüpfigkeit. Die CSU verlor hier bei der Wahl über 20 Prozent der Stimmen und im eigentlich konservativen Freising hätte ihnen der Direktkandidat der Grünen, Christian Magerl, mit 23,5 Prozent fast das seit Jahrzehnten fest gebuchte Direktmandat weggeschnappt. Seit dem Wahlabend gilt deshalb Siegfried Schneider nur noch formal als Oberbayern-Chef der CSU. Seine Anweisungen, so heißt es aus der Partei, bekomme er schon längst wieder von Edmund Stoiber.
Oberfranken
Provinzfürst: Karl Theodor zu Guttenberg, 36, Bundestagsabgeordneter.
Sind für: Horst Seehofer
Eine oft unterschätze Keimzelle der CSU. Schließlich wurde der legendäre CSU-Mitbegründer Josef "Ochsensepp" Müller in diesem Bezirk geboren. Von den drei fränkischen Gebieten ist Oberfranken auch mit Abstand das bayerischste. Schließlich gibt es hier mit Bamberg eine standhafte katholische Enklave und mehr Bierbrauereien als anderswo. Aber: Weil im angrenzenden Thüringen reichlich Fördergelder fließen, wandern die Unternehmen ab. Legendär wurde die Gemeinde Nordhalben, die vor zwei Jahren unter thüringische Verwaltung gestellt werden wollte. Günther Beckstein rief im Wahlkampf den verwöhnten oberbayerischen Wählern zu: "Ich lade Sie ein: Gehen Sie einmal nach Hof, in die östliche Oberpfalz, wo Arbeitslosigkeit noch ein Thema ist." Deshalb wird es Horst Seehofer wohl auch dank der Oberfranken wohl wieder halten wie die oberbayerischen Ministerpräsidenten vor ihm: Über Krisenregionen schweigt man.
Oberpfalz
Provinzfürstin: Emilia Müller, 56, Wirtschaftsministerin.
Sind für: Horst Seehofer.
CSU-Erfolgsgeschichten sehen anders aus als hier: Während des Dreißigjährigen Kriegs unter die Herrschaft des Bayerischen Herzogs Maximilian I. gelangt und anschließend zwangskatholisiert, lebten die Menschen in der Oberpfalz lange Zeit recht erfolgreich von der Eisenindustrie. Als in den 1990er-Jahren nach langem Hinsiechen die letzten Eisenhütten ihre Öfen löschten, hatte die bayerische Regierung kein Konzept, wie man der Region wieder auf die Beine helfen könnte. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, ebenso die Abwanderung, die Infrastruktur ist veraltet. Abseits der größeren Städte Regensburg und Schwandorf gibt es nicht einmal Breitband-Zugänge zum Internet.
Niederbayern
Provinzfürst: Manfred Weber, 36, Abgeordneter im Europaparlament.
Sind für: Horst Seehofer
In Bayerns Herz der Finsternis führt nur eine schmale Landstraße. Eine Fahrt auf der berüchtigten B12 kann ähnlich mühsam werden wie die Überquerung eines usbekischen Bergpasses, aber sie ist halt die einzige Verbindung zwischen der restlichen Welt und dem südlichen Niederbayern. In der Abgeschiedenheit hat sich ein besonders strenger, bäuerlicher Katholizismus herausgebildet und eine Sprache, die selbst für Bayern schwer verständlich ist. Worte wie "Anarchie" lassen sich auf Niederbayerisch ("Onooharchie") kaum aussprechen. Warum auch. Nirgendwo sonst stehen die Menschen so bedingungslos loyal zur CSU. Weil die Niederbayern, egal was kommt, bisher immer brav schwarz gewählt haben und die dortige CSU nicht nur Horst Seehofer unterstützt, sondern auch sonst brav alles macht, was ihre oberbayerischen Kollegen wünschen, fallen ihre Nöte in München fast immer unter den Tisch. Die schon seit zwei Generationen ersehnte Autobahn ist noch immer nicht gebaut.
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