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Archiv-Artikel

Viel Zeit zum Protestieren KOMMENTAR VON RALPH BOLLMANN

Die gestrigen Proteste der niedergelassenen Ärzte werden nicht die letzten gewesen sein. Auch andere Interessengruppen wie Kassen oder Krankenhäuser haben noch genügend Zeit, ihren Protest zu organisieren. Denn wesentliche Teile der famosen Gesundheitsreform, die Union und SPD nun im Januar beschließen wollen, sollen erst im Jahr 2009 in Kraft treten – also volle zwei Jahre später.

Mit ihrem Zeitplan kamen sich die Koalitionäre schlau vor. Weil die Konzepte der Parteien in der Gesundheitspolitik so weit auseinanderliegen wie nirgends sonst, war von vornherein klar: Eine tragfähige Reform würde nicht zustande kommen. Also entschied sich die Regierung dafür, den unvermeidlichen Murks erst umzusetzen, wenn sie selbst schon wieder abtritt. Ende der Debatte.

Doch da hat sich Schwarz-Rot getäuscht. Denn das fatale Timing hat den gegenteiligen Effekt. Zwei Jahre lang können die Interessenverbände, die im Gesundheitswesen besonders zahlreich und schlagkräftig sind, nun an dem Kompromiss herummäkeln. Und das Schlimme daran ist: Weil die miserable Qualität der Reform völlig außer Frage steht, werden die Lobbygruppen auch mit unberechtigten Forderungen auf große Resonanz stoßen.

Bei allen Mängeln, die der Hartz-IV-Reform vielleicht anhaften mochten – eines stimmte damals: der Zeitplan. Das Chaos in den Arbeitsagenturen wäre kaum kleiner ausgefallen, hätten die Behörden noch ein paar Jahre für die Vorbereitungen gehabt. Eines aber wäre gewiss größer gewesen: die Wahrscheinlichkeit, dass eine Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, zu welchen Konditionen auch immer, niemals zustande gekommen wäre. So aber haben selbst die Gewerkschaften die Grundzüge der Reform inzwischen als nicht mehr veränderbares Faktum akzeptiert.

Man kann sich mit guten Gründen für oder gegen eine Reform entscheiden, man kann sie jetzt beschließen oder später. Eines aber ist fatal: eine bereits beschlossene Reform erst später umzusetzen, weil man selbst nicht davon überzeugt ist: Das ist die Kapitulation von Politik – und eine Last, von der sich die große Koalition womöglich niemals mehr befreien kann.