Verzerrung der Wirklichkeit, bis sie ihr wahres Gesicht zeigt: „Fear and Loathing in Las Vegas“ im 3001 : Mit der Fliegenklatsche gegen Fledermäuse kämpfen
Normalerweise ist die filmische Realität auf der Überholspur der Geschichte. Dort ist alles schneller, größer, schöner; geschehen Dinge, die unmöglich erscheinen; spielen bei jedem Kuss die Geigen. Was auch immer an filmischer Überhöhung existiert, findet sich auf der Leinwand ein und stellt die Wirklichkeit in den Schatten. Kein Wunder, dass Filmstudios seit ihrer Existenz damit werben, Licht zu bringen und Löwen zu wecken. In Umkehrung von Platons Höhlengleichnis vertreten sie die Ansicht, dass die farbenfrohsten Bilder sich erst im Dunkel des Kinosaals einfinden.
Umso beruhigender ist es daher, wenn die Wirklichkeit das Kino übertrifft. Ein Beispiel für diesen Fall ist derzeit im 3001 zu sehen: Terry Gilliams Film Fear and Loathing in Las Vegas mag phantastisch sein; seine Vorbilderübertrifft er nicht.
Beginnen wir mit dem Protagonisten, einem Sportreporter namens Raoul Duke, der mit seinem Anwalt Dr. Gonzo nach Las Vegas fährt, um über ein Motocross-Rennen zu berichten. Die Eingangssequenz verhilft per Off-Voice zum Verständnis der merkwürdig verrenkten Gesten, die Darsteller Johnny Depp in Szene setzt: „Wir waren irgendwo bei Barstow am Rande der Wüste, als die Drogen zu wirken begannen“, heißt es dort. Zur Bebilderung wird der Mann mit Halbglatze und Hawaiihemd im gleichen Atemzug von Fledermäusen heimgesucht, die er mit einer Fliegenklatsche zu erschlagen trachtet. Im Gepäck warten Meskalin, Kokain, LSD, Tequila, Budweiser und Äther auf ihren Einsatz, der im Film zu einem exzessiven Bilderrausch gerinnt. Psychedelische Teppichmuster werden zu Schlangenhäuptern, BarbesucherInnen zu kopulierenden Echsen, Badewannen zu Kampfschauplätzen. Anspielungen auf eine außerfilmische Wirklichkeit finden sich nur in weiteren zweidimensionalen Varianten, im Wahn oder im Fernsehen inszeniert. Einzig das Ende des Films weist als Anklage über die drogenbedingte Einschränkung der Wahrnehmung hinaus, wird hier doch Drogenpapst Timothy Leary an den Pranger gestellt. „Hat er an uns gedacht, die wir hängen geblieben sind, als er seine Drogenrevolution ausrief?“
Wer beim Psychiater Ronald D. Laing nachliest, wird die Frage schnell beantworten können. Denn ,,gemessen an der totalen Weltkatastrophe (...) fallen ein paar Leute, die verrückt werden, nicht ins Gewicht“, kolportiert Laing die Vorstellungen von Leary, der ihn Mitte der 60er in London besuchte. „Tune in, turn on, and drop out“ war für Leary die Formel der Weltveränderung, die einem drohenden Atomkrieg die Stirn zu bieten hatte. Gerüchten zufolge sorgten er und seine Mitstreiter zu Beginn der Hippie-Zeit dafür, dass an zwei folgenreichen Tagen in San Francisco 300.000 LSD-Trips verteilt wurden.
Auch Hunter S. Thompson, der nicht nur die literarische Vorlage für Fear and Loathing in Las Vegas lieferte, sondern im Selbstprotokoll Pate für die Figur des Raoul Duke stand, steht in dieser Tradition des Drogenexperiments. Zwar wird seine grundsätzliche Skepsis gegenüber Learys Vorstellung, durch Drogen sei die Welt zu verändern, im Abschlusssatz des Films gut wiedergegeben. Die zynische Weltsicht, die er durch seine Experimente zu untermauern trachtete, fehlt jedoch vollständig. Bedenkt man, dass die Halbglatze der Filmfigur Duke nur Abglanz einer wahren Begebenheit ist, wird das atemberaubende und wirklichkeitsverändernde Ausmaß von Thompsons Aktionen deutlich. Letzterer kandidierte Anfang der 70er als Sheriff in seinem Wohnort und rasierte sich die Haare ab, um seinen Nebenbuhler als „langhaarigen Opponenten“ diskreditieren zu können. Auch die Reportage über das Motorradrennen gründet auf einer wahren Begebenheit, mithilfe derer Thompson seinen als „Gonzo-Journalismus“ bezeichneten Stil – die Beeinflussung der Wirklichkeit durch die Berichterstattenden – weiter vorantrieb. Bei Fear and Loathing bestand das Selbstexperiment darin, die Wirklichkeit durch reichhaltigen Drogenkonsum so lange zu verzerren, bis sie ihr wahres Gesicht zeigt. Von ihrer Dreidimensionalität ist der Film weit entfernt. Doro Wiese
Ab Donnerstag, 23.15 Uhr, 3001