Verrohung in Deutschland : Ursache: passive Politik
Die Angriffe auf Politiker im Wahlkampf sind ein Vorgriff auf ein größeres Problem – demokratische Werte verlieren an Bindekraft, meint Udo Knapp in seinem taz-FUTURZWEI-Kommentar.
taz FUTURZWEI | Der EU-Politiker Matthias Ecke (SPD) wurde in Dresden beim Plakatkleben krankenhausreif geschlagen. In Leipzig wurde eine Grüne bedrängt, in Berlin die SPD-Senatorin Franziska Giffey auf den Kopf geschlagen. Fast jeden Tag werden jetzt ähnliche Vorfälle gemeldet. Verrohung im politischen Alltag – wird das die Normalität in der Republik?
Die pflichtgemäß moralisierende Empörung folgt auf dem Fuß. Hendrik Wüst (CDU), der Ministerpräsident von NRW, zieht auf der Demonstration gegen rechte Gewalt vor dem Brandenburger Tor sein Jackett aus, beschwört die Demokratie und den Kampf gegen Nazis. Er nennt die AfD eine nazistische Partei. Die Bundesländer Sachsen und Brandenburg haben Anträge zu Verschärfungen im Strafrecht im Bundesrat eingebracht, mit denen auch kommunale Politiker besser geschützt werden könnten. Bundesinnenministerin Nancy Faeser will sich darum kümmern, dass die Justiz schneller Verfahren gegen die Gewalttäter aufruft und den strafrechtlichen Rechtsrahmen konsequenter ausschöpft. Omid Nouripour, MdB und Bundesvorsitzender der Grünen, verlangt, „dass mehr Polizei auf die Straßen kommt und konkrete Schutzkonzepte umgesetzt werden“.
„Ist doch irre zu glauben, wir könnten alle Politiker einzeln beobachten“, antwortet ihm Herbert Reul, Innenminister von Nordrhein-Westfalen (CDU). „Es sind doch Zehntausende“ stellte er fest. „Ich will so eine Gesellschaft auch nicht, wo neben jedem Politiker auf der Straße ein Polizist steht.“ Reul sagt weiter: „Wir dürfen uns nicht von ein paar Verrückten unsere Gesellschaft und unsere Art, Politik zu machen, kaputt machen lassen.“ Den Reigen der Aufgeregten beschließt dann in seiner bekannten Art der Bundeskanzler. „Wählen gehen ist die richtige Antwort auf die Gewalt“, sagt Olaf Scholz.
Das geistige Rückgrat der Republik
Klar, wir gehen wählen, was denn sonst – an der Verrohung, nicht nur im politischen Alltag, wird das wenig ändern. Diese Verrohung hat einen grundsätzlicheren Hintergrund. Das geistige Rückgrat der Republik, ihre im Grundgesetz verbrieften, demokratischen Werte als Gegenentwurf zu totalitärer Herrschaft jenseits von Menschenrechten und Rechtstaatlichkeit verlieren in Teilen der Öffentlichkeit ihre exklusive Bindekraft.
Gemeint ist die Bindekraft, die über die eine, nur maulend hingenommene, Verpflichtung zur Einhaltung von Gesetzen hinaus, auf einen zwar nicht religiösen aber doch transzendenten Wertehorizont bezogen ist. Die Relativierung eines solchen, aufgeklärten Verständnisses von Freiheit, die im demokratischen Konsens eingeschränkt ist, bestimmt, ausgehend von den Rändern der Gesellschaft her, die öffentliche Wahrnehmung von Politik in unserem Alltag.
Diese Relativierung wird von der Mehrheit der Gesellschaft bisher nicht mitgetragen, anderseits aber durch die undeutliche Politik der Parteien in den aktuellen großen Grundsatzfragen verstärkt.
Relativierung des Freiheitsverständnisses
Als da sind: Die AfD mit ihrer Forderung nach Abschaffung des Parteienstaates, ihrer Verachtung für rechtstaatliche Verfahren, ihrer Relativierung der Naziverbrechen, ihrer Kumpanei mit autoritären Regimen und fast 30 Prozent Zustimmung in manchen aktuellen Umfragen muss keinen Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht fürchten.
taz FUTURZWEI N°28: Weiterdenken
Wer ist „Der kleine Mann“, wer sind „Die da oben“, wie geht „Weltretten“, wie ist man „auf Augenhöhe“ mit der „hart arbeitenden Bevölkerung“? Sind das Bullshit-Worte mit denen ein produktives Gespräch verhindert wird?
Über Sprache und Worte, die das Weiterdenken behindert.
U.a. mit Samira El Ouassil, Heike-Melba Fendel, Arno Frank, Dana Giesecke, Claudia Kemfert, Wolf Lotter, Nils Minkmar, Bernhard Pörksen, Bernhard Pötter, Florian Schroeder, Paulina Unfried, Harald Welzer und Juli Zeh.
Die Ukraine wird in ihrem Abwehrkampf gegen eine russische Überwältigung zwar umfangreich, aber eben nicht ausreichend mit Waffen versorgt. Das bedrückende Gewicht der Rückkehr des Krieges auf die politische Agenda, wird durch die Finanzierung der notwendigen Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr allein mit Schulden banalisiert.
In den sozialen Medien werden, ohne jeden Versuch einer verfassungsrechtlich eingehegten Regulierung, menschenfeindliche Gedanken, Hass, Fake News und Desinformation breitgetreten. Es wird hingenommen, dass sich so Tatsachen in vielfältige Beliebigkeiten auflösen, die reflektierende, politische Öffentlichkeit auf einige wenige Printmedien reduziert und ansonsten aufgehoben wird.
Über 300 Professoren deutscher Universitäten sprechen unter Hinweis auf eine sogenannte Kontextualisierung in die Geschichte des Imperialismus, Israel das Existenzrecht ab. Anstatt den gleichlautenden Forderungen ihrer Studenten zu widersprechen, legitimieren sie – ohne zumindest einen Verweis auf ihre öffentlich-rechtlichen Dienstpflichten fürchten zu müssen – Antisemitismus in der zukünftigen Elite der Republik.
Islamistische Organisationen können mit tausenden Anhängern unbehelligt und fröhlich für die Errichtung eines Kalifats auf dem Boden der Bundesrepublik demonstrieren – unter Missbrauch ihrer im Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit und von den Medien interessiert begleitet.
Passive Haltung zu zentralen Fragen der demokratischen Substanz
Die Verrohung im Wahlkampf und in anderen Lebensbereichen hat ihre Ursache in dieser beispielhaft belegten passiven Haltung zu zentralen Fragen der demokratischen Substanz. Weil sich Politik darauf reduziert, Probleme möglichst geräuschlos, halb oder eben gar nicht zu bewältigen, wird sie irgendwann nicht mehr ernst genommen.
Hier wird nicht etwa einem „Durchregieren“ das Wort geredet. Sondern nur darauf hingewiesen, dass Politik, die Zustimmung für ihre Positionen gewinnen will, mehr ist als Streit um Steuersenkungen, Schuldenbremse, Energiepreise, Bürgergeld, Arbeitszeitverkürzungen und die Garantie einer möglichst umfassenden work-life-balance.
Es ist derzeit nicht zu erkennen, wer der aktuellen Politik eine solche grundsätzliche Dimension zu geben fähig und bereit wäre, im demokratischen Streit um den richtigen Weg in die Zukunft. Demokratie beinhaltet immer die Möglichkeit ihres Scheiterns an der Unfähigkeit ihrer Protagonisten, die historische Legitimität ihrer Herrschaft fortzuschreiben: Genau das steht in der Bundesrepublik auf der Tagesordnung. Und sie ist damit nicht allein. Italien Frankreich, Ungarn, die USA und andere sind ebenfalls auf dem Weg, die demokratische Substanz ihrer Herrschaft zu dekonstruieren.
Demokratie und Freiheit können auch in der Bundesrepublik scheitern. Die Verrohung im Wahlkampf ist nicht mehr als ein nachdrücklicher Hinweis darauf. Es ist offen, wie die Sache ausgehen wird.
UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für das Magazin taz FUTURZWEI.