Verlag experimentiert mit Alternate Reality Games: Roman 2.0
Statt sich ans Papier zu klammern, wagt der britische Penguin-Verlag den Schritt ins Netz und lässt gestandene Autoren Romane im Netz entwickeln - live und interaktiv.
Der britische Penguin-Verlag will für die Zukunft gerüstet sein. Junge Menschen für Bücher zu begeistern wird immer schwieriger, weiss man - sie dazu zu bringen, dafür auch noch Geld auszugeben, auch. Darum hat er jetzt im Netz ein Pilotprojekt gestartet: Bei "We tell stories" erzählen sechs Autoren des Verlags Online Geschichten und nutzen dazu die Möglichkeiten, die ihnen das Netz bietet - von Täterverfolgung über Google Maps über Romanschreiben im Chatformat bis hin zu Blogs, die aus mehreren Perspektiven eine Geschichte erzählen.
"Ich war der falsche Mann am falschen Ort zur falschen Zeit" etwa steht auf einem kleinen weißen Textfeld mitten auf einer Google-Maps-Ansicht auf einen Bahnhof in London. Es ist der erste Satz des Onlineromans "21 steps", einer wilden Kriminaljagd, die den Leser auf der interaktiven Karte quer durch London treibt. Inspiriert vom Krimiklassiker "39 Stufen" von John Buchan. Der britische Autor Charles Cumming verpackt seine Geschichte in kurze, leicht verdauliche Textblöcken.
Ein interessanter, mutiger Schritt, den Penguin mit dem Projekt geht - denn hier lässt sich ein klassischer Verlag auf "Alternate Reality Games" ein - einer neuen Spielform, die stärker mit der Realität des Users vernetzt ist als jemals zuvor. So kann der Leser online live verfolgen, wie eine Familie über seltsame Ereignisse in einem unheimlichen Geisterhaus in London bloggt und live dabei zuschauen, wie das Bestseller-Autorenduo Nicci French online einer Liebesgeschichte entwickelt - oder den Verlauf eines Märches durch seine Wünsche aktiv beeinflussen.
Der Penguin-Verlag hatte bereits im seinem Projekt "A Million Penguins" das Netz als Vehikel für seine Romane benutzt. Die Idee damals: Nach dem Prinzip der Online-Enzyklopädie Wikipedia sollte jeder Leser den Roman mitbearbeiten. Mit "We Tell Stories" geht der Verlag das Projekt Online-Roman diesmal viel mutiger und optisch aufwändiger an als zuvor - und holt jede Menge Prominenz mit ins Boot.
So verpflichtete Penguin für das Onlineprojekt bekannte Verlagsautoren und betraute die Alternate-Reality-Game-Entwickler "Six to Start" mit der Umsetzung. Außerdem steht für jeden der Romane ein Klassiker der Weltliteratur Pate - von Zolas "Therese Raquin" bis Charles Dickens "Hard Times".
"Eine solche Verzahnung der Arbeit bekannter Schriftsteller mit online-spezifischen Vermittlungsformen hat es meines Wissens noch nicht gegeben", sagt Jeremy Ettinghausen, verantwortlicher für Digital Publishing beim Penguin-Verlag, der Süddeutschen Zeitung. Ob sich der große Aufwand für das Projekt gelohnt hat, wird sich jedoch wohl erst nach Abschluss der letzten Episode zeigen, die letzten Dienstag startet.
Bestsellerautor Moshin Hamid, dessen Roman "Der Fundamentalist, der keiner sein wollte" für großen Wirbel sorgte, soll in einem Verlies-Szenario ein Alternate Reality Game entwickeln - für "Six to Start"-Entwickler Adrian Hon der Höhepunkt der Serie. In einer "unheiligen Allianz" von Abenteuertext, Einflussmöglichkeit des Lesers und Verlies-Karte wird sich dieses Spiel fünf Tage lang im Netz fortschreiben - Basis der Geschichte ist der uralte Buchklassiker "Tausendundeine Nacht".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!