■ Verdoppelung der Sozialhilfeempfänger bei Jugendlichen: Arme Kinder
In den Berliner U- und S-Bahnen trifft man immer häufiger auf seltsame schrille junge Mitreisende: Mädchen und Jungen, die nur eine Station zusteigen, mit einer spitzen, dramatischen Stimme und in aller gebotenen Kürze eine furchtbare Lebensgeschichte herunterhaspeln, nicht vergessend zu erwähnen, daß sie sich nicht prostituieren wollen, und Anfang und Ende in einem erschöpften „Helfen Sie mir!“ finden – bis alle verlegen in den Taschen kramen, damit der peinliche Spuk verschwindet.
Ebenfalls in Berlin – und zwar vom schulpolitischen Neuland im Osten bis zu den etablierten nobleren Stadtvierteln im Westen – haben die Schülerinnen und Schüler längst nicht mehr jeder in jedem Fach ein Schulbuch. Ein reges Tauschen und Kopieren tritt an die Stelle – einfach lernt es sich nicht aus Grammatikbüchern, die sich spreizen vor lauter reinkopierten Ersatzseiten. Armes Berlin.
Öffentliche Armut – private Armut. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger bei Kindern und Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr hat sich in den alten Bundesländern seit 1982 verdoppelt, gibt der DGB bekannt. Insgesamt 775.000 Jugendliche sind davon betroffen, das Risiko zu verarmen und gleich am Lebensanfang, wie wohl noch lebendig, schon nutzlos aus der Gesellschaft zu fallen, wächst. Was sagt uns das über die ach so familienbesorgte konservative Regierung? Sie kann nichts Ernsthaftes für Jugendliche und Kinder getan haben, wenn als Ergebnis ihrer Regierungstätigkeit die Verdoppelung von deren Elend zu verzeichnen ist. Es sagt uns aber auch, daß die reiche Bundesrepublik schon alle Kennzeichen einer sterbenden Gesellschaft trägt, wenn man nach ihrem Selbsterhaltungswillen und ihrer Überlebensklugheit fragt. Hier bei uns, bei dramatisch sinkenden Geburtenraten und immer noch erheblichem privatem Reichtum ist sie ein deutliches politisches Marginalisierungszeichen: Kinder sind seit langem die neue Randgruppe – ohne jede Lobby.
Die Renten, sagt der Kanzler, und wischt hastig jedes Problembewußtsein aus der öffentlichen Debatte, die Renten werden nicht angetastet. Wie aber diese hauchdünne Gesellschaftsschicht von Kindern, für die wir nicht einmal genügend Schulbücher haben, in Zukunft pro Erwerbstätigen einen Rentner voll finanzieren soll – das weiß keiner, das steht als düstere Frage am Zukunftshimmel. Es soll kein politisches Thema werden, weil wahlpolitisch nicht opportun. Wenn sie doch kleine Philosophen wären, die Jugendlichen Schnorrer in den U- und S-Bahnen von Berlin, dann müßten sie ihren erwachsenen Mitmenschen einen anderen Satz ins Gedächtnis hämmern: „Helfen Sie sich, meine Dame und mein Herr, Sie könnten mich nämlich noch brauchen!“ Antje Vollmer
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