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Verbraucherschicksal: Lebensmittel vom Fließband

Dauereffekte des EG-Gipfels: Plastikverschweißte Hygiene plus gentechnologischem Food-Design ist gleich Eßwaren  ■ Von Irene Soltwedel

Wachstumshormone im Fleisch, die Salmonellen im Hähnchen, Glykol im Wein und die faulen Eier in den Nudeln – all unsere alltäglichen verzehrbaren Lebensmittelskandale werden uns nicht nur erhalten bleiben, sondern noch zunehmen. Unsere Ernährungsmöglichkeiten aus nicht- agrarindustrieller Produktion, ehemals gebunden an Bauernhöfe und Ackerböden, ist auf dem Weg in die romantisierte Vergangenheit.

Wegweisend dafür sind die Agrarbeschlüsse des vergangenen EG-Sondergipfels, der mit großem Theaterdonner Streitigkeiten gemimt hat, wo keine sind: Alle Agrarminister Europas haben sich für rein agrarindustrielle Landwirtschaft ausgesprochen. So und nicht anders ist die Einigkeit in den beiden verhandelten Instrumenten Flächenstillegung und Vorruhestandsgeld zu sehen.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin kommt gleichfalls zu einer kritischen Einschätzung der Flächenstillegung. „Der biologisch-technische Fortschritt wirkt auf jeden Fall weiter. Das bedeutet, daß auf den nicht stillgelegten Flächen sehr bald Produktionsreserven durch weitere Intensivierung mobilisiert werden. Das Überschußproblem wird nur um wenige Jahre in die Zukunft verschoben.“ Zu einer Neuorientierung der Agrarpolitik – weg von der Massentierhaltung zu einer flächengebundenen, artgerechten Tierhaltung durch Stickstoffbesteuerung, Pestizidverbot und Einführung von Bestandsobergrenzen, wie sie von der Agraropposition, Grünen und einigen Agrarwissenschaftlern, aber auch regionalen Bauernverbänden gefordert wird – ist es nicht einmal ansatzweise gekommen. Diese jährlichen agrarischen Katastrophenrunden in Brüssel werden wohl noch bis ins nächste Jahrhundert über die Probleme der Überproduktion tagen – völlig unberührt von anderen europäischen Themen wie Stahl, Kohle, Arbeitslosigkeit und AIDS. Der Beitrag der Politiker zur Überproduktion liegt im praktischen Teil: Beseitigung durch Arbeitsessen.

Der Konzentrationsprozeß der Agrarproduktion wirkt gleichsam in der Lebensmittelverarbeitung und im Handel. Von 2.380 Molkereien im Jahre 1950 existieren heute in der BRD noch 489. Zehn große Milchriesen kontrollieren heute ein Fünftel des bundesdeutschen Milchmarktes. An die Stelle kleiner und regionaler Schlachthöfe und Metzgereien traten einige Dutzend zentraler Fleischfabriken. Sie verschicken die halbverarbeiteten Schlachttiere direkt an die großen Handelsketten wie Aldi, Tengelmann, Arko, COOP. Die Preise bestimmen die Milch- und Fleischkonzerne und die zehn größten Handelsketten, die inzwischen 50 Prozent des deutschen Lebensmittelmarktes kontrollieren. Supermärkte und Handelsketten wiederum verdrängen jährlich 3.000 Einzelhandelsgeschäfte (laut Verbraucherzentrale).

Eine wohnnahe Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs wird wahrlich immer schwieriger – während 1979 73 Prozent aller Hausfrauen und –männer ihr Lebensmittelgeschäft innerhalb von zehn Minuten erreichen konnten, traf dieses 1983 nur noch für 40 Prozent zu.

Nachdem der/die VerbraucherIn für Strukturwandel und Konzentrationsprozesse seine Steuergelder zu Unsummen verschleudert hat und gleichfalls den Ge winner der Ernährungsindustrie hervoragend bedient, kann er/sie nun das vermeintliche Lebensmittel „billig“ erstehen. Nach einer gründlichen chemischen Vor- und Nachbehandlung der landwirtschaftlichen Rohstoffe, der Medikamentierung des Lebend-Fleisches bis hin zum Psychopharmaka Betablocker, damit sich das Tier ganz entspannt schlachten läßt, liegt nun im Supermarktregal das bearbeitete Lebensmittel: eine Komposition aus Farb-, Aroma- und Konservierungsstoffen, aus Emulgatoren, Trenn-, Säuerungs- und Geliermitteln, Stabilisatoren und anderen Zusatzstoffen. Die Deklaration eines solchen Lebensmittels gleicht einem Waschzettel für ein Arzneimittel; zur Lektüre empfohlen seien die Zusammensetzungsangaben bei Grannini, Diabetis-Saft oder der Milchschnitte.

Ein agrarindustrielles Supermarktprodukt muß drei Kriterien erfüllen: das der Haltbarkeit, der Transportfähigkeit und der Lagerfähigkeit. Darauf ist die herkömmliche Agrarforschung spezialisiert, die gentechnischen Erneuerungen haben da noch ein weiträumig „zu beackerndes Feld“.

Die auf Wachstum und Konzentration setzende Agrarpolitik wird bestimmt von starken Verflechtungen zwischen Bauernverband und Wirtschaft. Diese gehen einerseits über die Verarbeitungsindustrie der Milch- und Zuckerwirtschaft und andererseits über die Ernährungsindustrie, den Großhandel, das Banken- und Versicherungswesen. Um so mehr die Agrarpolitik in der Fülle der dirigistischen Maßnahmen zu einer Geheimwissenschaft wird, umso stärker sind die Interessen der Großagrarier und Funktionäre und ihr Erfolg bei der politischen Durchsetzung. Es ist schon faszinierend, wie diese Entwicklung vor jeglicher Einmischung von „Nicht-Agrariern“ geschützt wird. Und das mit Erfolg! Jede/r betrachtet Agrarverhandlungen immer noch als Eingemachtes der Bauern-Klientel, ohne daß klar ist, daß mit jedem EG-Agrarabschluß über für jeden existenzielle Notwendigkeiten, unsere alltäglichen existenziellen Notwendigkeiten, der der Ernährung, verhandelt wird. Der Bauernverbandspräsident Heeremann und mit ihm der ganze tümelnde Altherrenclub des deutschen Bauernverbandes in all seinem ökologischen und ökonomischen katastrophalen Unfug sind nicht nur Sache der Landwirte. Wir Verbraucher können zwar zwischen 200 Brotsorten entscheiden, aber wir werden dirigistisch in unseren Ernährungsmöglichkeiten durch den Filz von Großagrariern, Ernährungsindustrie und Bauernverband bestimmt. Die entscheidende Grundsatzfrage, ob Lebensmittel dezentral von vielen landwirtschaftlichen Betrieben, oder wenigen Agrarfabriken mit industrieller Produktion die Versorgung übernehmen sollen, ist längt beantwortet. Die 900 Milliarden, die jährlich in Privathaushalten für die Versorgung ausgegeben werden, gehen in den viertgrößten Wirtschaftsbereich der BRD, in die Ernährungsindustrie, und diese erzielt die größten Gewinnspannen in der großindustriellen Fertigung.

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