Veraltete Atomkraftwerke: Sicher ist nur das Risiko
In den alten Reaktoren häufen sich "meldepflichtige Ereignisse", also Pannen. Die AKW-Betreiber beharren dennoch darauf, dass auch Altanlagen mit neuester Technik arbeiten würden.
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BERLIN taz | Wird der Störfall zum Normalfall? Atomkraftgegner befürchten ein höheres Störfallrisiko, sollten die ältesten Atomkraftwerke länger laufen als bislang geplant. Eine vor kurzem veröffentlichte Studie des Bunds für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) kommt zu dem Schluss, dass die älteren Anlagen besonders anfällig sind.
Nach dem unter der rot-grünen Koalition ausgehandelten Atomkompromiss müssten in den nächsten vier Jahren sieben Reaktoren vom Netz genommen werden. Unter einer unionsgeführten Regierung können die Energiekonzerne jedoch mit Laufzeitverlängerungen rechnen - auch für das Atomkraftwerk Neckarwestheim 1. Der Betreiberkonzern EnBW rühmt sich zwar damit, dass es in dem Kraftwerk noch keinen einzigen Störfall gegeben habe.
Doch das liegt an der Begriffswahl: Auf der internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES) sind Störfälle nämlich Vorkommnisse auf der zweiten Stufe von sieben. Wenn es aber um alle meldepflichtigen Ereignisse geht, mischt Neckarwestheim 1 ganz oben mit: 419 Unregelmäßigkeiten wurden seit der Inbetriebnahme gemeldet, übertroffen wird die Anlage in der traurigen Statistik bloß vom AKW im schleswig-holsteinischen Brunsbüttel. Auch im Jahresdurchschnitt melden keine anderen Atomreaktoren so viele Ereignisse wie Neckarwestheim 1 und Brunsbüttel.
Für EnBW sind solche Zahlen ohne Aussagekraft. Sie seien "kein Zeichen von sicher und unsicher", erklärt ein Sprecher. Es gehe bei den Meldungen darum, andere Kraftwerksbetreiber zu informieren. Auch die alten Meiler befänden sich auf dem aktuellen Stand der Technik. Immerhin seien für die Nachrüstungen von Neckarwestheim 1 bereits knapp 700 Millionen Euro ausgegeben worden - fast das Doppelte der Baukosten.
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Oda Becker hält diese Argumentation für unzulässig. Die Physikerin und Autorin der BUND-Studie bestätigt zwar, dass die alten Reaktoren nachgerüstet worden seien, "aber die erhalten dadurch nicht die gleichen Sicherheitsstandards." Manche Verbesserungen seien bei den Altanlagen "technisch überhaupt nicht möglich".
Die Serie: Sieben Atomkraftwerke müssten laut Atomkonsens in der nächsten Legislaturperiode abgeschaltet werden. Die taz nennt in einer Serie über diese ältesten noch laufenden AKW sieben Argumente dafür, warum das passieren muss.
Die Demo: Für den 5. September rufen die Anti-Atom-Initiativen zu einer großen Demonstration unter dem Motto "Mal richtig abschalten!" nach Berlin.
Der Service: Mehr über und von Initiativen nicht nur von Atomkraftgegnern finden Sie auf www.bewegung@taz.de
Beispielsweise seien die vier Kühlsysteme für den Reaktor Neckarwestheim 1 nicht in vier verschiedenen Räumen untergebracht, sondern bloß in zwei. Kommt es in einem der beiden Räume zu einem Brand, dürften in dem anderen Raum keine Fehler unterlaufen. Diese Unzulänglichkeit könne auch mit zusätzlichen Brandmeldern und Löschanlagen nicht vollständig ausgeglichen werden.
Auch das Bundesumweltministerium hält den Block 1 in Neckarwestheim für unsicherer als den neueren Block 2. EnBW hatte beantragt, den älteren Reaktor länger laufen zu lassen und dafür den jüngeren eher vom Netz zu nehmen. Das Ministerium lehnte wegen des höheren Risikos ab. In dem Ablehnungsbescheid heißt es auch, die meldepflichtigen Ereignisse "mit Altersrelevanz" würden im Block 1 viermal häufiger vorkommen als im neueren Block 2.
Thorben Becker vom BUND spricht von einer "starken Häufung von altersbedingten Schäden" in deutschen Atomkraftwerken. Davon seien in Zukunft auch die jüngeren AKWs betroffen. Deswegen müssten zwar die Altreaktoren sofort stillgelegt werden, jedoch ohne die anderen Kraftwerke dafür länger laufen zu lassen
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