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Archiv-Artikel

VOM KLAUEN UND ANDEREN WEIHNACHTSBRÄUCHEN Die Pflegerinnen-Paranoia

JACINTA NANDI

Am zweiten Weihnachtsfeiertag fliege ich nach England, die Flüge waren so billig. Meine Mama ist deprimierend und mein Bruder ist deprimiert. Sie hat MS, meine Mama, und ist paranoid geworden. Sie glaubt, dass die Pflegerinnen klauen, und da sie nix Wertvolles hat, glaubt sie, dass sie ihr Klopapier und Inkontinenzbinden klauen. Bevor die Pflegerinnen kommen, müssen wir Klopapier und Damenbinden in dem Haus in einem Büroschrank wegsperren. Als die Frauen reinkommen, ruft sie ganz laut: „Sperr das Klopapier weg! Ist all das Klopapier weggesperrt? Weil sie klauen, sie klauen, alle!“

Die Pflegerinnen sind alle schwarze indische oder pakistanische Frauen. Keine weißen Frauen machen diese Arbeit, „nicht mal Polen wollen Pfleger sein“ sagt mein Stiefvater. Meine Mama, die immer so pc war – früher hat sie sich geweigert, meine indischen Schulfreunde mit englischen Spitznamen anzusprechen: meine Freundin Baldish zum Beispiel, die Billie heißen wollte. Und meine Mama so: „Nein! Du hast so ein schöner Name! Du sollst zu deinen Wurzeln stehen!“ Voll das pc-Gelaber und so, es war mir peinlich. Jetzt aber: „Sie klauen!“, ruft sie. „Mama, sag das leiser! Sie können dich doch hören.“ Meine Mama seufzt nachdenklich. „Sie können nicht mal Englisch“, sagt sie. „They can’t speak English, this lot.“

„Die Regierung“, kündigt meine Mama abends an, „möchte mich töten. Die hat vor, Menschen wie mich zu töten. Weil behinderte Leute wie ich, wir kosten den Staat Geld, das mögen sie nicht. Sie wollen Geld sparen. Deswegen behandeln sie uns so schlecht, bis wir Selbstmord begehen.“ – „Wie“, sagt mein Bruder, „wie töten sie dich?“ – „Sie treiben mich in den Selbstmord!“ Ihre Augen glänzen triumphierend. Mein Bruder steht auf, geht in den Garten, wahrscheinlich um zu kiffen.

Ich frage meine Mama, wie es den schwulen Nachbarn geht. „Ich sehe sie nicht mehr“, sagt sie. „Ich sehe keine Nachbarn mehr, seit Jane Treamore gestorben ist. Sie haben kein Interesse an mir. Nicht mal die Schwulen kommen vorbei, um Tee zu trinken. Die Einzigen, die an der Tür klopfen sind die Pflegerinnen und die Zeugen Jehovas.“

Ich stehe auf, gehe in die Küche. Die Augen meines Bruders sind rot, ich denke, er hat geweint. Ich habe ihn seit seinem 13. Geburtstag nicht weinen sehen, als er auf dem Weg nach Hause zusammengeschlagen wurde – birthday beats.

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„Hast du geweint?“, frage ich. „Nein“, sagt er. „Ich bin bekifft. Ich halte es sonst nicht aus mit unserer Mutter! Wenn sie nur die Wahrheit sehen würde!“ – „Was?“, frage ich. „Sie soll einsehen, dass die konservative Regierung sie nicht töten will, dass ihr Leben denen total egal ist?“

„Nächstes Jahr bleibe ich in Plymouth“, sagt er. „Okay“, sage ich und denke an alle, die denken: Wenn Behinderte Gleichberechtigung wollen, sollen sie öfter über Behindertenwitze lachen. Ich denke oft an so’ne Leute, besonders wenn meine Mama sich einpullert und ich ihre Binden wechseln muss und ich sie aus Versehen an die Muschi fasse. Diese Menschen sind so doof, dass sie eigentlich erschossen werden sollten, denke ich mir. Oder zumindest sterilisiert.