VERSCHIEBUNG DER OPFER-TÄTER-UNTERSCHEIDUNG : Erleben statt Erinnern
ISOLDE CHARIM
Letzte Woche erschien in der Welt ein Interview mit dem Filmregisseur Oskar Roehler zu seinem Berlinale-Beitrag „Jud Süß – Film ohne Gewissen“. Ganz einmütig handelten die Interviewpartner da das neue Verhältnis zum Nationalsozialismus ab. Frage: „Lange Zeit musste ein Film über die Nazizeit einen pädagogischen Impetus vorweisen: Aufklärung, Warnung. Was hat Ihr ‚Jud Süß‘?“ „Darüber sind wir, glaube ich, hinaus“, lautete Roehlers Antwort. Darüber sind wir also hinaus, das brauchen wir nicht mehr – was aber kommt danach?
Der moralisch-pädagogische Vergangenheitsbezug hatte eine eigene emotionale Form – die der Empathie mit den Opfern. Ich erinnere mich noch gut, Anfang der 90er-Jahre gab es eine Folge der „Lindenstraße“ – jene TV-Serie, die alle deutschen Befindlichkeiten in alltagstaugliche Konflikte zu übersetzen wusste –, wo dieser Drang zur Empathie seinen idealen Ausdruck in den pubertären Aufwallungen einer Jugendlichen fand, die ihn in einer Rasur ihres Haupthaares auslebte. Derart kahlköpfig, präsentierte sie sich ihrer schockierten Umwelt als Erinnerung an einen KZ-Häftling. Natürlich konnte man solches als parasitäre Aneignung verurteilen, als unmögliche, „inakzeptable Identifikation“ (Diedrich Diederichsen) mit den Opfern. Aber darüber sind wir jetzt hinaus.
Nun kann man sich mit Roehler ganz ohne Aufklärung der „gnadenlos guten Performance von George“ (im historischen Film „Jud Süß“) widmen. Nun kann man sich mit ihm dem „Faszinosum, wie das Dritte Reich funktioniert hat“ hingeben. Ganz ohne Moral steht der Weg offen für eine neue emotionale Aneignung: Nicht mehr Empathie ist das Ziel, sondern das Erleben des „Faszinosums NS“. Statt um falsche Identifikation mit den Opfern geht es um vorgetäuschte Echtheit. Hier wird, nach dem Wort des Filmtheoretikers Georg Seeßlen, ein „distanzloses Dabeisein“ produziert. Der Faschismus funktioniert dabei wie ein Reality-Format: Eine Mischung aus Geschichte und Fiktion erzeugt das Paradox eines „authentischen Mythos“. Nicht dass man an diesen Mythos glauben will, nein. Man will nur den Thrill des „authentischen Erlebens“. Man will den Schauder spüren. Ganz so muss ihn wohl Roehler spüren.
Echter NS-Film
Etwa dann, wenn er antritt, um das „Grundprinzip der deutschen Kultur“ vor der Vergewaltigung durch die US-amerikanische Popkultur zu retten. Seit einem Vierteljahrhundert würden ja die genuin deutschen Kräfte der Romantik, die Kräfte des Dämonischen und der Zerstörung von der „Küchenpsychologie“ des US-amerikanischen Films unterdrückt. Nun sei es Zeit, diese letzten Reste der Nachkriegsordnung zu entsorgen und diese dunklen Kräfte zu befreien. Nur so ist ein „echter“ Film über den NS möglich.
Faschismus erleben
Übergehen wir mal, wie unsinnig hier Romantik und NS kurzgeschlossen werden. Aber vor zehn, fünfzehn Jahren wäre eine „authentische Annäherung“ an den Nationalsozialismus noch unmöglich gewesen. Erst die Verschiebung der Opfer-Täter-Unterscheidung zu einem allgemein-abstrakten Opferbegriff, zu einem Opferbegriff, der sich nicht mehr auf die Juden beschränkt, einem Opferbegriff, der alle umfasst, hat den Weg freigemacht. Erst damit wurde die moralische Möglichkeit für diese Emotionslage eröffnet: den Faschismus zu „erleben“.
Erinnern ist eine Strategie der Distanz, Erleben hingegen der Versuch, diese zu überwinden. Emotionalisierung und Einfühlung suchen nach dem wahren Faszinosum, dem faschistischen Subjekt. Da kommt plötzlich eine Kategorie ins Spiel, die gerade in Bezug auf den NS – bescheiden gesagt – erstaunlich ist: die Nostalgie. Nostalgie ist die Faszination mit einer vergangenen Identifikation. Sie imaginiert also einen naiven Blick, den sie einem hypothetischen historischen Subjekt unterstellt. Um diese nostalgische Sehnsucht zu bedienen, um ihr ein Objekt anzubieten, müssen solche Filme den Faschismus als Signifikanten der Fülle präsentieren (während der aufklärerische Diskurs gerade versucht hat, ihn als Signifikanten der Leere zu entzaubern.) Ziel der nostalgischen Strategie ist es, Unmittelbarkeit herzustellen. Unmittelbarkeit zur Nazizeit, die „nun einmal eine der haarsträubend interessantesten geschichtlichen Epochen“ war, wie Roehler uns ungeniert versichert. Ja, da brauchen wir keine Moral mehr, bei dieser interessantesten Epoche. Nur eines: „Es werden noch viele Filme über das Dritte Reich gemacht werden.“
■ Die Autorin ist freie Publizistin und lebt in Wien