Utopische Szenarien: SF steht für Social Fantasy

Zum 40sten der Grünen verpasst Zoë Herlinger der 70er-Öko-Utopie „Frau am Abgrund der Zeit“ von Marge Piercy einen Realitycheck.

»Fridays for Future«-Jugendliche in Berlin Bild: Annette Hauschild/Ostkreuz

DIE UTOPIE

Text: Marge Piercy

Dann roch sie Salz in der Luft – Marschland. Ein Windstoß blähte ihr weites, lumpiges Kleid, und es fror sie an den Beinen. Unter den Füßen spürte sie steinigen Boden. Eine Möwe schrie, und eine zweite irgendwo über ihr antwortete. Luciente löste ihren Griff. »Daheim und frei! Willst du den ganzen Tag mit geschlossenen Augen dastehen? Schau doch!«

Raumschiffe, Wolkenkratzer bis hinauf in die Stratosphäre, eine unterirdische, meilenweit in die Erde hineinreichende Maulwurfswelt, überdacht mit Glaskuppeln? Sie sträubte sich dagegen, diese Welt zu sehen. Stimmen aus der Ferne und ganz in der Nähe, Gelächter, Vögel, viele Vögel, irgendwo Hundegebell. War das  … ja, ein Hahn, der da am helllichten Tag krähte! Jetzt riss sie die Augen auf. Ein Hahn? Verstört starrte sie Luciente an, die triumphierend strahlte. »Wo sind wir?«

»Du könntest dich ja mal umschauen! Hier lebe ich.« Luciente hakte sich bei ihr unter. »Das ist unser Dorf. Wir sind etwa sechshundert Leute hier.«

Sie blickte sich langsam um und sah  … einen Fluss, kleine, unauffällige Gebäude, seltsame Konstruktionen – wie langbeinige Vögel mit Segeln, die sich im Winde drehten –, ein paar größere Bauten in Gelb und in Terracotta und eine blaue Kuppel, lauter unregelmäßige Gebäude, von denen keines größer war als ein Supermarkt in ihren Tagen, ein ganz gewöhnlicher Supermarkt in irgendeinem Einkaufszentrum. Am höchsten waren die vogelartigen Objekte, und die waren kaum höher als die Kiefern dazwischen. Von Kletterpflanzen überwucherter architektonischer Wildwuchs. Keine Wolkenkratzer, keine Raumflughäfen, kein Verkehrschaos am Himmel. »Bist du sicher, dass wir in die richtige Richtung gereist sind? In die Zukunft?«

»Das ist meine Zeit, ja, wahrhaftig. Schau, wie schön es ist!«

»Du hast gesagt, du lebst auf dem Dorf, irgendwo im Busch. Wenn wir in eine Stadt fahren würden, wäre es dort  … moderner?«

»Wir haben keine großen Städte. Es hat nicht funktioniert. Du scheinst enttäuscht zu sein, Connie?«

»Es ist nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe.« Die meisten Gebäude waren klein und lagen willkürlich verstreut zwischen den Bäumen, Büschen und Gärten. Gebaut waren sie aus zusammengesuchtem altem Holz, alten Ziegeln und Steinen und Zementquadern. Viele waren fantasievoll geschmückt und von Kletterpflanzen überwuchert. Sie sah Fahrradfahrer und Fußgänger. In der Nähe eines langgestreckten Gebäudes war Wäsche aufgehängt, Hemden flatterten auf der Leine. In der Ferne hinter der blauen Kuppel grasten Kühe – ganz gewöhnliche schwarz-bunte und rot-bunte Kühe käuten hinter einem Mäuerchen ganz gewöhnliches Gras wieder. Üppige Gemüsebeete waren zwischen den Hütten angelegt und erstreckten sich bis zum Horizont. Auf einem Hügelbeet werkelte ein dunkelhäutiger alter Mann zwischen Pflanzen herum, die wie Spinat aussahen.

[…]

Die Dächer der Hütten – anders konnte man es nicht nennen – sahen merkwürdig aus. »Was haben die denn da oben? Eine Art Oberlicht?«

»Das sind Regenwasserspeicher und Sonnenkollektoren. Unsere Häuser sind über der Erde wegen des Sickerwassers – der Grundwasserspiegel ist sehr hoch. Wir haben hier fast Marschland, aber nicht ganz, deswegen können wir ohne Bedenken bauen. Ich werde dir noch mehr Dörfer zeigen, die anders sind  … ich glaube, verglichen mit deiner Zeit, ist hier wenig zu sehen und zu hören. Als ich damals in Manhattan landete, dachte ich, dass ich taub werde! In gewisser Weise seid ihr fast zu beneiden, ihr lebt in einer fetten, verschwenderischen, überquellenden Zeit!«

Marge Piercy: Frau am Abgrund der Zeit. Social Fantasy, übersetzt von Karsta Frank. – Argument-Verlag, 1996 (US-amerikanisches Original: 1976), S. 78 bis 80

WAS AUS DER UTOPIE WIRD

Text: Zoë Herlinger

Bewegungen leben von Idealen und Zukunftsbildern, die sie entwerfen dürfen, ohne von Realpolitik ausgebremst zu werden. Parteien überleben durch Taktik, Kompromisse und Führerfiguren. Die Grünen haben es seit ihrem Entstehen vor vierzig Jahren ziemlich erfolgreich geschafft, beides zu sein. Neben vielen Glückwünschen müssen sie sich denn auch ständig die Frage anhören, wer hier eigentlich wen ausgetrickst hat: der Mainstream die Bewegung, oder die Partei den Mainstream?

Aus Parteisicht trifft das Prädikat »utopisch« meistens einen wunden Punkt, wenn damit mal wieder progressive politische Maßnahmen abgekanzelt werden. Als Bewegung konnten es sich die Umweltaktivisten der Siebziger hingegen noch leisten, radikale, träumerische, weit entfernte Zukünfte zu entwerfen. Marge Piercys „Frau am Abgrund der Zeit“ ist eine dieser Ökotopien, außerdem eine antipsychiatrische Streitschrift und eine Mahnung gegen den wachsenden Einfluss von Konzernriesen.

Die Protagonistin Connie bekommt Besuch aus dem Jahr 2137. Als sie schließlich in die Gegenrichtung reist, runzelt sie (wie die Leserin) erst mal skeptisch die Augenbrauen: Dörfliche Verbände in idyllischen Landschaften, die sich autark versorgen und mit den Tieren wohnen, deren Produkte sie verzehren? Die Frau aus der mexikanischen Unterschicht New Yorks, die entsprechend gravierenden Diskriminierungen ausgesetzt ist und das Überleben auf der Straße gelernt hat, kauft der Zukunft ihre Sorglosigkeit nicht ab. Ist das nicht pure Nostalgie?

Zumindest Konservatismus, den sich auch stadtflüchtende Akademikerinnen als stereotype Stammwählerschaft der heutigen Grünen unterstellen lassen müssen. Aus taktischer Sicht hat der ja auch was Gutes – ohne einen guten Schuss davon wären sie kaum dazu gekommen, in legendären elf Landesregierungen mitzuwirken (derzeit sind es zehn). Zu viel davon und sie setzen vor lauter kompromissbereiter Beteiligungseuphorie ihre eigene Enkeltauglichkeit aufs Spiel.

Die neue junge Umweltbewegung, die im letzten halben Jahr ordentlich aufgemischt hat, reagiert jedenfalls nicht unbedingt mit Gegenseitigkeit auf den Jubel, der ihr von den etablierten Grünen gezollt wird: Ist ja schön, dass ihr die Erde nur von uns geborgt habt. Dann lasst sie aber nicht ständig von Leuten verwalten, denen das herzlich egal ist. Leider ist eine zynische Parallele zu Piercys Roman, in dem Connie, sobald sie aufmuckt, einfach in die Psychiatrie gesteckt wird, dass den jungen Aktivistinnen permanent die Autorität zu sprechen aberkannt wird. Das kannte auch schon die alte Generation von verlachten »Müslifressern und Ökospinnern«, wie der Webauftritt der Grünen etwas neurotisch bemerkt.

Dieses überhebliche Abkanzeln ist zwar lästig, spielt aber eigentlich keine Rolle, weil es ins Leere läuft. Denn der Einwand der Bewegung gegen die Partei würde missverstanden, wenn man ihren Erfolg daran misst, bis zu welchem Punkt ihre radikalen Forderungen in Maßnahmen übersetzt werden. Es ist vielmehr gerade ihre »Narrenfreiheit«, aus der eine nicht wählende, durch ihren Protest nicht existenziell bedrohte Gruppe ihre Stärke zieht. Umso hartnäckiger und kompromissloser können sie auf ihrer Agenda beharren.

Auch wenn sich Fridays for Future und Extinction Rebellion ironischerweise dem Vorwurf des Dystopismus aussetzen, besteht ihre Rolle also eigentlich darin, ihren Eltern eine Lektion in Utopie zu erteilen. Sie dazu zu zwingen, bei allen parteipolitischen und pragmatischen Zwängen ein visionäres Ziel ernst zu nehmen, auch in dem Bewusstsein, dass es nicht bis zum Äußersten eingelöst werden kann. Es geht gar nicht um die Frage, ob das Wirken der Bewegung oder der Partei nun effektiver ist und ob man sich demgemäß lieber für Ideal oder Pragmatik entscheidet. Beides: Um eine »Social Fantasy« auch nur in Teilen Realität werden zu lassen, braucht es die unbedarften, romantischen, utopischen Spinnereien einer Bewegung. 

Dieser Artikel ist in taz FUTURZWEI N°9 erschienen.

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