■ Urdrüs wahre Kolumne: Volkszorn – hart und feucht
Da hat die halbwüchsige Tochter also Husten, Schnupfen, Heiserkeit. So schickt der wohlmeinende Papa das Kind ins Bett und sich selbst zum Kiosk, um dort ein paar Jugendzeitschriften gegen aufkommende Langeweile für den leidenden Nachwuchs zu erwerben. Und nimmt dabei auch das Magazin „Bravo Girl“ mit, das sich als Hardcore-Magazin für pubertierende Vamps erweist: Wo einstens Doktor Sommer noch erklärte, daß es vom Küssen keine Babies, sondern allenfalls das Pfeiffersche Drüsenfieber gibt, wird hier und heute das geile Kribbeln beim Brustwarzen- und Schamlippen-Piercing bunt bebildert beschworen, und als Extra-Gimmick finden sich im Heft Sticker mit so netten Sentenzen wie „Was sich liebt, das leckt sich“ oder „Höher, schneller, mach weiter!“. Wir aber bekamen seinerzeit noch was vor die Nüsse für den Slogan „Vögeln statt Turnen“ auf dem Löschblatt.
Und zu einer Runde lecker-lecker Hoden-Piercing möchte ich den skrupellosen Werbetexter verurteilen, der das gute alte Sprichwort „Anarchie ist machbar“ jetzt auf einer ganzseitigen „Spiegel“-Anzeige für den Rasen-Samen Supra so aufgriff: „Traumrasen ist machbar, Herr Nachbar“. Hüte dich, du mutmaßlicher Leser von „MÄX“ und „Wirtschaftswoche“ – man ruft nicht ungestraft den Geist der Revolte für ein bißchen merkantilen Dünnschiß!
Gehört in einer Original-Haake-Beck-Kneipe: „Wenn hier jetzt eine Wüste wäre und der Tresen hier die einzige Wasserstelle und da käme jetzt Otto Rehagel halbverdurstet angekrochen und wollte was zu trinken, der dürfte bei mir höchstens die Pißrinne aussaufen!“ Der Volkszorn. Hart. Gerecht. Und ganz schön feucht.
Da hat also ein vermutlich mit Lundiaregal- und Flötotto-Systemen möblierter Unmensch auf der Wanderausstellung „Kinder und Aids“ im Bürgerhaus Vegesack zwei Bilder geklaut, die jetzt in seinem geschmackvollen Studio punktbestrahlt an der Wand hängen. Und während über die ziemlich hochpreisige Kenwood-Anlage die Stimmen von Marianne Rosenberg, Tom Waits oder Buckelwalen mit Plattenvertrag mit 2001 erklingen, steht auf einmal das schlechte Gewissen vor der Tür und flüstert „Dich miesen Eiterpickel wird kein Mensch mehr leiden mögen und Dein Platz im nächsten Leben wird sein in Bremerhaven als Nachbar von Uwe Beckmeyer oder Richard Skribelka und ernähren wirst Du Dich von vorgestrigen Fischfrikadellen!“ Du bereust? Unter vielleicht noch Deine unsterbliche Seele retten!
Wie sehr die taz lügt, kann man dem Bremer Lokalteil vom vergangenen Dienstag entnehmen: Schließllich kann es selbst in dieser Stadt der Mjusicäl-Tröpfe und Bürgerpark-Tombolisten nicht wahr sein, daß ein solch charmantes Hexenstübchen wie das Schaffnerhaus hinter der öden Glas- und Beton-Ödnis des CieCieBie einfach so abgerissen wird. Und daß bei dieser Gelegenheit dann gleich noch halbwegs würdevolle Unterkünfte für Obdachlose niedergemacht werden, das hätte doch längst, wenn denn was dran wäre, den gutmenschelnden Bürgermeister persönlich aufs Fahrrad getrieben, um den stolzen Berbern seine protestantische Solidarität zu bekunden. Beim Bäcker hängt ein Zettel in würdevoller Greisinnenschrift mit dem Foto eines Piepmatz aus: „Mein Hansi ist entflogen. Wiederbringer bekommt eine Sahnetorte und Leuchtglobus“. Die Menschen fürwahr, seltsam und liebenswert. Meint mit den besten Wünschen
Dein Freund Ulrich!
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